Braunschweig. Publizist Thies Marsen wird beim Leserforum über seine Erfahrungen als Beobachter des NSU-Prozesses sprechen.

Seit Thies Marsen als Journalist arbeitet, hat er sich mit der NS-Vergangenheit und dem Neofaschismus in Deutschland beschäftigt. Für den Bayerischen Rundfunk hat er unzählige Beiträge über den Rechtsextremismus verfasst; seit vier Jahren ist der Reporter auch intensiver Beobachter des NSU-Prozesses in München. Für seine Arbeit ist er 2016 in Wolfenbüttel mit dem Lessing-Preis für Kritik ausgezeichnet worden. Als Folge wird der Förderpreisträger am 31. Mai Gast beim Leserforum zum NSU-Prozess im BZV-Medienhaus sein. Mit dem Rechtsextremismus-Experten sprach Katrin Schiebold.

Herr Marsen, wer im rechtsextremen Milieu recherchiert, macht sich nicht nur Freunde. Wie oft werden Sie als Journalist angefeindet?

Bislang halten sich die Anfeindungen in Grenzen. Als Radiojournalist ist man nicht so prominent wie ein Printjournalist, dessen Name in der Zeitung steht oder ein Fernsehjournalist, dessen Gesicht regelmäßig zu sehen ist. Aber die Angriffe haben zugenommen. Vor kurzem habe ich zum Beispiel in meinem Postfach beim Bayerischen Rundfunk die Kopie eines Formulars aus der NS-Zeit gefunden, ein sogenannter Abstammungsnachweis. Als Name stand darauf: Thies Samuel Marsen. Man hatte mir einen zweiten Vornamen verpasst, der jüdisch klingen soll. Der Absender wollte mir wohl damit sagen, dass er mich nicht dem deutschen Volk zugehörig sieht.

„Rechtsextreme Denkmuster sind tief in der Mitte unserer Gesellschaft verankert.“
„Rechtsextreme Denkmuster sind tief in der Mitte unserer Gesellschaft verankert.“ © Thies Marsen, Journalist und Träger des Lessing-Förderpreises

Sind Sie auch schon direkt bedroht worden?

Ich wurde bei einer Veranstaltung von Pegida in München von einem vorbestraften Neonazi angerempelt. Aber andere Journalisten haben da sicherlich schon heftigere Angriffe erlebt.

Seit Beginn vor vier Jahren verfolgen Sie intensiv den NSU-Prozess. Wie nah ist das Urteil?

Das Ende ist in Sicht. Die Beweisaufnahme ist im Wesentlichen abgeschlossen, jetzt kommen nur noch die Plädoyers und das Urteil – wobei die Plädoyers bei fünf Angeklagten und rund 80 Nebenklägern natürlich einige Zeit in Anspruch nehmen werden. Die Prognose geht dahin, dass das Urteil bis zur Sommerpause, höchstwahrscheinlich aber im September oder Oktober gefällt wird.

Wie hat der Prozess den Blick auf den Rechtsextremismus und den Umgang mit Rechtsextremisten in unserem Land verändert?

Ich bezweifle, ob der Prozess tatsächlich viel verändert hat. Es ging ja schon damit los, dass nur fünf Beteiligte angeklagt wurden, obwohl es am Anfang eine Liste von mehr als 100 möglichen Mitgliedern des NSU gegeben hat. Außerdem haben sich die Medien in ihrer Berichterstattung sehr auf die Hauptangeklagte Beate Zschäpe konzentriert. Im Laufe des Prozesses hat sich dann herauskristallisiert, dass der NSU nicht nur aus zwei Killern und einer Finanzmanagerin bestanden hat. Obwohl das Gericht intensiv versucht hat, die Verstrickungen aufzuklären, ist es an einer Mauer des Schweigens gescheitert. Grundsätzlich ist ein Prozess, in dem es ja in erster Linie um die Frage von Schuld oder Unschuld der Angeklagten geht, nicht der richtige Ort, um gesellschaftliche Probleme zu diskutieren.

Gleichwohl ist durch den Prozess eine Diskussion angestoßen worden, wie die Sicherheitsbehörden, wie aber auch die Gesellschaft mit dem Thema Rechtsextremismus umgehen sollten. Sehen Sie, dass bleibende Lehren gezogen wurden?

In einigen Bundesländern gab es Veränderungen bei der Polizei-Ausbildung. Ein Problem war ja der virulente, institutionelle Rassismus in den Sicherheitsbehörden – auch, weil es dort wenige Migranten gibt. Außerdem gab es besonders beim Verfassungsschutz eine bestimmte politische Ausrichtung. Er war ja mal als Instrument gegen links gegründet worden und ist das zum Großteil lange geblieben. In Bayern beteuerte der Verfassungsschutz noch 2011, es gebe keine Anzeichen für terroristische Strukturen in der rechtsextremen Szene. Ein halbes Jahr später ist die Terrorzelle NSU aufgeflogen.

Gleichzeitig ist aber auch die Prävention stärker in den Blickpunkt gerückt, Projekte gegen Rechtsextremismus wurden gestärkt.

Das ist eine gute Entwicklung, wenngleich es auch da wieder fragwürdige Tendenzen gibt: Es ist zum Beispiel völlig widersinnig, Aussteigerprogramme beim Verfassungsschutz anzusiedeln. Ich kenne Leute, die aus der Szene aussteigen wollten. Als sie sich beim Verfassungsschutz meldeten, bekamen sie zu hören: Bleiben Sie doch drin und liefern uns Informationen. Das ist das Grundproblem: Ein Geheimdienst ist dazu da, Informationen zu sammeln und nicht Leute aus der rechtsextremen Szene herauszuholen. Ein anderes Problem ist, dass einige Verfassungsschutzämter immer stärker in der politischen Bildung Fuß fassen. Geheimdienstler oder Polizisten gehen in die Schulen, um dort Präventionsarbeit zu machen. Aber wer der rechtsextremen Szene nahe steht, wird sich kaum öffnen, wenn er befürchten muss, dass seine Informationen weitergegeben werden oder wenn er sogar strafrechtliche Konsequenzen zu befürchten hat.

Welche Lehren muss man denn dann ziehen?

Es gibt wahnsinnig viele Initiativen und Bündnisse gegen Rechtsextremismus in der Zivilgesellschaft, die eine hervorragende Recherche-Arbeit machen. Doch diese werden oft nicht ausreichend unterstützt. Außerdem gibt es bei uns in Bayern noch immer keine zentrale Opferberatungsstelle. Das würde aber einen ganz anderen Blick auf das Thema ermöglichen. Solche Stellen bekommen mit, wo was los ist und können ganz andere Statistiken liefern als die Polizei. Ein Problem ist ja auch, dass rassistische Taten in den Polizei-Berichten oft gar nicht als solche registriert werden.

In den letzten Jahren haben sich Sicherheitsbehörden und Medien stark auf den Islamismus konzentriert. Ist der Rechtsextremismus dadurch wieder stärker aus dem Fokus der Öffentlichkeit gerückt?

Ja. Vor allem aber werden die beiden Bereiche völlig unterschiedlich wahrgenommen. Im vorigen Jahr hatten wir in Bayern zum Beispiel zwei Anschläge – in einem Regionalzug bei Würzburg und in Ansbach, wo ein syrischer Flüchtling auf einem Musikfestival eine Rucksackbombe zündete. Beide Anschläge wurden sofort als islamistische Taten eingeordnet, es gab ja auch Indizien dafür. Man hätte aber ebenso sagen können, dass die Taten auf das Konto eines Psychopathen gehen – zumindest der Täter von Ansbach war in psychiatrischer Behandlung gewesen.

Im selben Jahr hatten wir in München das Massaker am Olympia-Einkaufszentrum. Ein junger Mann erschoss neun Menschen, die meisten Opfer hatten einen Migrationshintergrund. Er beging seine Taten am fünften Jahrestag der Anschläge des norwegischen Rechtsextremisten Anders Breivik, den er verehrt haben soll. Außerdem soll er stolz darauf gewesen sein, am selben Tag wie Adolf Hitler Geburtstag zu haben. Die Staatsanwaltschaft sieht zwar eine rechtsextreme Gesinnung, geht aber davon aus, dass die Tat auf Mobbing zurückzuführen ist.

Ich will kein Urteil darüber fällen, ob es eine rechtsextremistische Tat war oder nicht – aber mir fällt auf, dass man in dem einen Fall schnell von einem extremistischen Hintergrund spricht und im anderen nicht.

Woran liegt die unterschiedliche Herangehensweise der Sicherheitsbehörden?

Es gibt sicherlich mehrere Gründe. Den institutionellen Rassismus in den Behörden habe ich ja schon erwähnt. Zum anderen habe ich bei meinen Recherchen immer wieder erlebt, dass rassistische Vorfälle kleingeredet wurden. Besonders in kleinen Gemeinden hält sich die Auffassung nach dem Motto: Die Nazis sind unsere Jungs, diejenigen, die darauf aufmerksam machen, sind die Ruhestörer. Auf der größeren Ebene ist diese Sicht auch latent vorhanden: Die Nazis sind doch Deutsche, die Islamisten sind Fremde, die uns stören.

Man kann Rechtsextremismus nicht nur auf polizeilicher Ebene bekämpfen, es ist auch eine ideologiekritische Auseinandersetzung nötig. Wir wissen, dass rechtsextreme Denkmuster tief in der Mitte unserer Gesellschaft verankert sind. Das Bild von der Flüchtlingslawine, die über uns hereinbricht wie eine Naturkatastrophe, wird auch gerne von Politikern der sogenannten Mitte bedient.

Wir erleben ja ein Erstarken des Rechtspopulismus in der Politik, die AfD erobert einen Landtag nach dem anderen. Wo hört Rechtspopulismus auf und wo fängt Rechtsextremismus an?

Die Übergänge sind fließend. Innerhalb der AfD gibt es Mitglieder, die ganz nah sind am Neofaschismus, es sind auch Mitglieder der sogenannten Identitären Bewegung dabei. Diese hat enge Verbindungen bis ins Neonazi-Milieu hinein. Der Thüringer AfD-Landeschef Björn Höcke beispielsweise hat Kontakte zu einem der führenden Neonazis, Thorsten Heise, der wiederum Kontakte in das Milieu des NSU hatte. Zeitweise sollte Heise sogar eingebunden werden in die Flucht des NSU-Kerntrios nach Südafrika. Die Partei bietet auch solchen Unterschlupf, die früher bei der NPD untergekommen wären.

Viele Bürger sind der Meinung, dass man seine Vorbehalte gegenüber „zu vielen Zuwanderern“ auch sagen dürfen muss, ohne gleich als Rechtsextremist abgestempelt zu werden.

Politiker aller Parteien bedienen solche Ressentiments. Aber es sind auch Fehler seitens der Medien gemacht worden. Ich habe nie verstanden, warum ein Phänomen wie die fremdenfeindliche Pegida-Bewegung so viel Raum in der Berichterstattung eingenommen hat oder warum anfangs so viele AfD-Politiker zu Talk-Shows eingeladen wurden.

Dadurch hat man die rechtsextreme Ideologie erst salonfähig macht. Das ist ja auch eine Strategie der rechtsextremen Szene: Wir müssen zunächst die Debatte, die Begriffe bestimmen: Lügenpresse, Flüchtlingslawine, Gender-Wahn. Das haben sie geschafft, diese Worte sind jetzt Allgemeingut.