Athen. Mehr als eine Million Menschen sind über Griechenland nach Europa geflohen. Ein Besuch in Athen bei den Verlorenen der großen Flüchtlingskrise.

Mahmuds Augen glitzern wässrig. Er hustet und schwitzt, sein Atem ist schwer. Mahmud geht es mies. Arantza, eine 25 Jahre alte Ärztin aus Madrid, holt ein Stethoskop aus ihrem kleinen Koffer. „Können Sie Ihre Jacke hochziehen?“, fragt sie. Vorsichtig tastet sie über Mahmuds Brust und seinen Rücken. Dann misst sie Puls und Temperatur. „Ich denke, eine Lungenentzündung“, sagt Arantza. Sie drückt Mahmud Tabletten in die Hand, Antibiotika. „Du musst morgen trotzdem zum Arzt oder in eine Klinik und das untersuchen lassen“, sagt sie dem Mann aus Somalia.

Junge Griechinnen mit engen Jeans laufen im Feierabendtempo an den beiden vorbei, Männer knattern mit ihren Mopeds die Einkaufsstraße entlang. Die Schaufenster der Boutiquen und Cafés im Zentrum Athens werfen Licht auf Arantza und Mahmud. Hier schläft er jede Nacht, direkt vor einem Kleidergeschäft. Mahmud trägt eine Mütze, eine dünne Daunenjacke, sitzt auf einem Pappkarton, über seiner Schulter eine Decke. Die Knochen seiner Finger waren gebrochen und sind schief wieder zusammengewachsen. An der Wange hat er eine Narbe. „Ein Autounfall auf der Flucht durch den Irak“, sagt Mahmud. Das sei aber lange her, seit anderthalb Jahren lebe er in Griechenland. Die meiste Zeit auf der Straße.

Weit mehr als eine Million Menschen sind in den vergangenen Jahren nach Europa gekommen. Syrer, Iraker, Afghanen, Sudanesen, Marokkaner. Viele leben jetzt in Asyleinrichtungen, manche haben eine Wohnung gefunden, andere harren noch immer in Camps vor den Grenzzäunen auf der Balkanroute aus. Und für etliche endet die Flucht auf den Straßen Europas, wie hier in Athen.

Wie viele Flüchtlinge obdachlos sind, ist nicht bekannt. Die EU hat keine Zahlen, die Organisationen sammeln nur Fallbeispiele. Hilfsorganisationen berichten über Obdachlose in Bulgarien und Italien, von Migranten, die unter Brücken in Paris schlafen, nachdem das Lager von Calais geräumt wurde. In Deutschland dürften es wenige sein, in Griechenland dagegen mehr. Insgesamt zählt eine Studie aus dem Jahr 2016 allein in Athen rund 9000 Obdachlose, 70 Prozent davon Griechen.

Im Sommer beginnt Arantza ihre Arbeit als Ärztin in Spanien. Vorher wollte sie noch Menschen helfen, erzählt sie, eigentlich in einem Krankenhaus in Angola, aber als sie las, dass dort eine Europäerin entführt wurde, ist sie nach Griechenland aufgebrochen. Jetzt kümmert sie sich drei Wochen lang um Menschen, die nach ihrer Flucht in Athen gestrandet sind. „Die Obdachlosen leben hier mitten auf der Straße“, sagt die junge Frau. „Aber niemand sieht sie wirklich.“ Wird Mahmud, der Somalier, zum Arzt gehen? Arantza zuckt mit den Schultern. „Mittwoch sind wir ja wieder da“, sagt sie. Mit neuen Tabletten und Tee.

Die Ärztin Arantza ist an diesem Abend nicht allein bei Mahmud vorbeigekommen. Anne ist dabei, eine ältere Frau aus Wales. Sajid, ein Mann aus Pakistan, der wie die anderen Flüchtlinge im Schlauchboot aus der Türkei nach Griechenland geflohen ist. Es ist erst ein paar Wochen her, da lebte Sajid selbst auf der Straße. Jetzt reicht er nachts obdachlosen Afghanen oder Griechen heißen Tee. Auch der Grieche Artur Cipllaka ist dabei. Und er ist immer da, montags, mittwochs, freitags. Jede Nacht geht er raus zu den Obdachlosen in der Stadt. Seit Monaten. Für manche fühle sich das Leben auf der Straße an, als hätte dich einer eingeschlossen in ein Zimmer, sagt Cipllaka. „Aber alleine findest du den Schlüssel nicht mehr.“ Jemand muss die Tür von außen öffnen, sagt er.

Die Regierung will von den Obdachlosen nichts wissen

Im Schatten der Straßenlaternen nimmt Cipllaka die Plastiktüten mit den belegten Broten und stellt sie neben die Teekannen. Er schiebt die Hände in seine Jackentaschen, dann ruft er den anderen leise zu: „Lasst uns weitergehen!“ Zurück bleibt der Somalier Mahmud auf seinem Pappkarton vor der Boutique.

Kaum ein anderes europäisches Land kämpft so stark mit der Unterbringung und Versorgung der Menschen wie Griechenland. Gut 62 000 Flüchtlinge leben derzeit hier, in Metropolen wie Athen, hinter Stacheldraht der „Hotspots“ auf den Inseln wie Lesbos, manche sind in Hotels untergebracht. Doch Recherchen vor Ort zeigen: Überall leben Flüchtlinge auf der Straße, schlafen in Hauseingängen, leben in verlassenen Häusern oder heruntergekommen Schulen. Einzelne schlafen vor dem Tor eines Camps in Athen, weil drinnen keine Plätze mehr frei sind. Manche tauchen ab in die dunklen Ecken Athens, werden abhängig von Alkohol oder Heroin. „Viele von ihnen sind Afghanen, Marokkaner, Pakistaner oder Albaner“, sagt Helfer Cipllaka. Menschen, die wenig Chance auf Asyl in der EU haben.

Wenn Cipllaka abends mit anderen Helfern loszieht, wandern sie immer die gleiche Route durch Athen, immer entlang der gleichen Parkbänke, Hauseingänge und Betonplatten. Etwa 70 Menschen versorgen sie.

Die meisten seien Flüchtlinge, sagt Cipllaka. Zwei Stunden vor ihrer Runde schmieren sie Brote, kochen Tee. Heute hat Cipllaka ein Wörterbuch dabei, Englisch-Arabisch. Eine Frau aus Wales möchte es einem jungen Iraker spenden, den sie auf einem der Rundgänge durch die Nacht kennengelernt hat.

Und für Sajid, den Pakistaner in der Gruppe, hat Cipllaka für diesen Monat eine Wohnung organisiert. Für eine Auszeit von der Obdachlosigkeit. „Ich bin Christ“, sagt Cipllaka. „Ich habe ein Herz fürs Helfen.“ Vom Staat bekommt er kein Geld.

In Griechenland mischen sich seit Jahren zwei Krisen. Erst wuchsen die Schulden, die EU gab Rettungspakete und verhängte Sparmaßnahmen. Die Arbeitslosigkeit stieg bis 2014 rasant an, Menschen sanken in die Armut. 2015 strandeten dann an manchen Tagen mehrere Tausend Menschen in Schlauchbooten auf den griechischen Inseln. Zur Wirtschaftskrise kam die Flüchtlingskrise. Griechenland fand keinen Ausweg aus dem Ausnahmezustand. Und Cipllaka sagt: „Die Wirtschaftskrise hat die Flüchtlinge am härtesten getroffen.“ Die Gelegenheitsjobs wurden weniger, die Spenden auch. Und der griechische Staat schwächer. „Die Regierung ignoriert die Obdachlosen auf der Straße.“ So sieht es der Helfer Cipllaka.

Und auch auf Nachfrage wiegelt die griechische Regierung ab. „Alle Flüchtlinge in Griechenland werden registriert und in Zentren oder Wohnungen untergebracht“, sagt George Florentis nur. Er ist Staatssekretär für Flüchtlinge und Migration. Aus seiner Sicht hat die Finanzkrise sein Land härter getroffen als die Flüchtlingskrise. Weil sie an die Existenz der Menschen gehe: Arbeit, Geld, Zukunft. Doch trotz der Armut gebe es kaum Hass, der sich an Flüchtlingen entlade. Die Solidarität der Griechen mit den Menschen aus Kriegen und Krisen sei noch immer groß, sagt der Regierungsbeamte. Von obdachlosen Afghanen im Athener Zentrum will er offenbar nichts wissen.

In der Tat ist es nicht leicht, das Problem zu überblicken: Manche Migranten tauchen auf eigene Faust ab – aus Angst vor der Polizei und der Abschiebung. Andere verschwinden aus den Asylunterkünften, weil die Lebenssituation „dort noch immer sehr schwierig sei“, wie Roland Schönbauer vom Flüchtlingshilfswerk UNHCR sagt. Zum Beispiel im Camp Eleniko in Athen. Immer wieder komme es zu Auseinandersetzungen. „Manche halten es nicht mehr aus“, sagt Schönbauer. Selbst im Vorzeigelager der Behörden in Athen, Eleonas, leben acht Menschen in einem Container, vier Doppelstockbetten, Toilette, Waschbecken und Herdplatte. Alle Container sind voll. Manche sind seit mehr als einem Jahr hier.

Nicht anders ist die Lage auf den Inseln der Ägäis. Auf Lesbos leben junge Männer aus Algerien und Marokko in verfallenen Lagerhallen, wenige Meter entfernt von einem vollen Camp der Regierung. „Wenn die Polizei kommt, rennen wir los“, sagt einer von ihnen. Er zieht seinen Pullover hoch und zeigt Narben am Bauch. Als Polizisten ihn erwischten, hätten sie ihn geschlagen. Davon berichten auch andere Männer in der Baracke. Ihre Chance auf Asyl ist gering, sie leben in der Illegalität. Manchmal, sagt einer, gehen sie in die Stadt und klauen ein paar Flaschen Schnaps. Sie trinken gegen das Scheitern ihrer Flucht an.

Sie wollen in die Metropolen –

zur Not auch ohne Obdach

Doch auch für Afghanen oder Syrer ist kein Platz – jedenfalls nicht überall. In ganz Griechenland hat die Regierung mithilfe von Organisationen und EU-Geld Flüchtlingscamps aufgebaut. Manche, weit draußen an der Grenze zu Bulgarien, sind nach Angaben der Vereinten Nationen nur zu einem Teil belegt. Viele Geflüchtete wollen jedoch nicht auf dem griechischen Land oder den Inseln leben. Sie wollen in die Metropolen wie Athen – und irgendwann von dort aus weiter in andere EU-Staaten. Nur sind in der griechischen Hauptstadt die Flüchtlingsunterkünfte voll. Manche entscheiden sich gegen die Peripherie. Und für ein Leben in der Obdachlosigkeit in Athen.

Fatima winkt herein, ihr Zimmer ist ein alter Klassenraum, in einer verlassenen Schule mitten in Athen. Mit Decken, die an dünnen Seilen hängen, hat sie ihre zwölf Quadratmeter Zuhause abgeschirmt. Im Raum lebt noch eine andere Familie. In der Ecke liegen Töpfe und Teller, auf der Fensterbank Jacken, Küchenpapier und Packungen mit Tabletten. Stromkabel hängen über der Heizung, in der Ecke steht ein kaputter Fernseher. Fatima ist eine ältere Frau, eine Kurdin aus dem Irak. Mit ihren beiden jungen Söhnen ist sie erst in die Türkei und dann nach Griechenland geflohen. Ihr Mann ist mit den Töchtern noch im Irak. Jetzt leben Fatima und ihre Söhne seit einigen Monaten mit ein paar Hundert anderen Menschen in den Räumen der heruntergekommenen Schule. Fatima schläft auf dem Boden, Betten gibt es nicht.

Griechische Autonome haben die Schule besetzt und zu einer Flüchtlingsunterkunft gemacht. Essen wird ihnen gespendet, Strom zapfen sie illegal an. Draußen spielen Kinder auf dem Hof, junge Frauen aus Spanien mit Rastalocken hocken zwischen Müttern mit Kopftuch. Drinnen hängen Pullover und Unterhosen an Wäscheleinen, auf jedem Flur steht eine Waschmaschine. Ein Zettel warnt auf Arabisch und mit einem Ausrufezeichen vor einer Krätze-Epidemie und gibt Verhaltenstipps für Erwachsene und ihre Säuglinge.

In einem Raum schläft eine Familie in einem Zelt. Wo Türen fehlen, sperren Tücher die Sicht in die Zimmer ab. Ein Bild von Einstein an der Wand verrät, dass hier einst unterrichtet wurde. „Wenn heute der Staat hier vorbeischaut, dann nur mit der Polizei“, sagt ein Mann aus dem Irak. In den vergangenen Monaten hätten die Behörden das Gebäude mehrfach räumen wollen.

Fatima sagt, sie wolle schnell weiter nach Deutschland. Dort leben Verwandte von ihr, darunter der älteste Bruder. Die Irakerin will nicht in staatliche Camps, weil sie fürchtet, dann im Land bleiben zu müssen. Doch für die Weiterreise fehlt Geld. Und es fehlt Kraft. Ihre Flucht ist ins Stocken geraten, hier in einem alten Klassenzimmer mitten in Athen.