Braunschweig. Ein „Renegade“-Alarm trifft Vorkehrungen für den Fall, dass ein Flugzeug als Waffe eingesetzt wird. Mitte März gab es eine solche Sorge.

Unser Leser Horst Gericke aus Hannover fragt:

Bei der Evakuierung der AKW nach dem „Renegade“-Alarm sind Kosten entstanden. Werden diese der Fluggesellschaft auferlegt?

Die Antwort recherchierte Von Dirk Breyvogel

Die Frage danach, wer was bezahlt, ist eigentlich immer interessant. In diesem Fall muss es aber zunächst darum gehen, was ein „Renegade“-Alarm ist. Am 10. März wurde ein solcher Alarm in Deutschland ausgelöst.

Das Wort „Renegade“ bezeichnet im Englischen einen „Abtrünnigen“. In diesem Zusammenhang meint das Wort den Fall, dass ein Verkehrsflugzeug zum Beispiel durch Luftpiraten terroristisch missbraucht wird. Genau dies war vor Wochen die große Sorge. Die Nachrichten, die die Lotsen der Deutschen Flugsicherung (DFS) am 10. März von ihren tschechischen Kollegen erhielten, waren ja auch beunruhigend: Kein Kontakt zu Flug AIC-171, einer Boeing 787 von Air India mit 231 Passagieren und 18 Besatzungsmitgliedern an Bord. Und die Maschine hatte den deutschen Luftraum erreicht. Eurofighter der Bundeswehr stiegen auf.

Wie ist „Renegade“ definiert?

Die Definition lautet so: „Eine Lage, in der die Vermutung, der Verdacht oder die Gewissheit bestehen, dass ein Luftfahrzeug aus terroristischen oder anderen Motiven als Waffe verwendet werden soll.“ Nach Informationen unserer Zeitung wird ein solcher Alarm zwischen 15 und 20 Mal in einem Jahr ausgelöst. Laut Jörg Langer, Sprecher der Luftwaffe in Berlin, ist der Grund, warum die auf diese Fälle spezialisierte Alarmrotte der Bundeswehr aufsteigen muss, in 90 Prozent der Fälle ein eingetretener Verlust der Kommunikation („Lost of communication“) zwischen den Lotsen am Boden und den Piloten im Cockpit. Im Fall der Air-India-Maschine, die offenbar 22 Minuten ohne Funkkontakt unterwegs war, gab es laut Bundeswehr-Sprecher die Besonderheit, dass sich die Piloten unprofessionell verhalten haben müssen. „Das Flugzeug war ja schon im benachbarten europäischen Luftraum ohne Funkverbindung unterwegs.“

Wer trägt die Kosten?

Der Bundeswehrsprecher Jörg Langer beziffert die Kosten, die eine Flugstunde eines Eurofighters kostet, auf 70 000 Euro. Mit Blick auf die Frage des Lesers sagt er: „Die Eurofighter kosten jeden Tag Geld, auch, wenn sie nicht im Einsatz sind und am Boden stehen. Dazu gehören Wartungsarbeiten, aber auch die Tatsache, dass die Piloten in ständiger Alarmbereitschaft sind. Die laufenden Kosten des Einsatzes selbst übernimmt also der Steuerzahler.“ Dennoch könnten Fluggesellschaften in Regress genommen werden. „Das sind ja Bußgelder, also im gewissen Sinne eine andere Form des Knöllchens“, sagte Langer. Die Verantwortung dafür, dass der Staat nicht auf den Kosten dieser Einsätze sitzenbleibe, liege im Bundesinnenministerium. Dieses lässt die Frage nach dem Regress offen. „Die Evakuierung im Rahmen eines Renegade-Falles ist eine prophylaktische Maßnahme, die mit den AKW-Betreibern nach dem 11. September 2001 getroffen wurde. Die entstehenden Kosten tragen die Betreiber der Kraftwerke.“ Die Kosten für die Abfangjäger seien Nato-Bündniskosten, die für Deutschland aus dem Verteidigungshaushalt getragen würden.

Wer wird wann informiert?

Fest steht: Wird der Alarm ausgelöst, folgen unmittelbar militärische und polizeiliche Maßnahmen. Das Bundesinnenministerium (BMI) spricht von unterschiedlichen Zuständigkeiten „bei der Abwehr von Gefahren aus der Luft und einem gemeinsamen, abgestimmten Vorgehen“. Das beinhalte auch die Koordination mit den zuständigen Stellen in den Bundesländern.

Eine Zäsur für die Luftsicherheit in Deutschland war der 11. September 2001, als islamistische Terroristen Flugzeuge in die Türme des World Trade Centers und das Pentagon steuerten. Als Konsequenz aus den Ereignissen wurde das „Nationale Lage- und Führungszentrum Sicherheit im Luftraum“ (NLFZ SiLuRa) als ressortübergreifende Institution des Bundes eingerichtet. So sind im NLFZ die Teilbereiche „Luftverteidigung“, „Flugsicherung“ und „Innere Sicherheit/Luftsicherheit“ als integrale Bestandteile dauerhaft einbezogen. In diesem arbeiten das Bundesverteidigungsministerium, das Verkehrsministerium und die DFS, das Zentrum Luftoperationen und aus dem BMI die Außenstelle „Sicherheit im Luftraum“ des Bundespolizeipräsidiums.

Die Weitergabe der Informationen muss im Falle des Ausrufs eines potenziellen „Renegade“-Falles minutenschnell ineinandergreifen. Erste Informationen erreichen in der Regel die DFS, die von den Lotsen der Kontrollstelle in Karlsruhe über Besonderheiten und Zwischenfälle über den Wolken informiert wird. Dann werden auch die anderen Behörden, als erste jedoch die Bundeswehr-Piloten, informiert.

Ute Otterbein von der Deutschen Flugsicherung erklärt, dass oftmals Bedienungsfehler im Cockpit der Grund seien, warum der Funk-Kontakt abbrechen würde. „Manchmal hat der Pilot verpasst, auf die neue Funkfrequenz zu wechseln oder einen Zahlendreher drin. Dann können unsere Lotsen auch über eine Notfrequenz versuchen, den Piloten zu erreichen. In diesem Fall war das die Kontrollzentrale in Karlsruhe, die in Deutschland zuständig für den oberen Luftraum ist, erklärt Otterbein den Ablauf. „Erst wenn unsererseits alle kommunikativen Möglichkeiten ausgeschöpft sind, wird das Problem der Luftwaffe gemeldet“, so die DFS-Pressesprecherin.

Über die Frage, ob als Ultima Ratio der Abschuss eines Flugzeugs durch die Bundeswehr erlaubt ist, wird immer wieder gestritten. Der politische Maßnahmenkatalog, der nach den Terrorattacken 2001 implementiert wurde, kann diese Frage abschließend nicht beantworten. Im Jahr 2006 verweigerten die Richter des Bundesverfassungsgerichts in einem Urteil die Zustimmung zu einem solchen Abschuss. Auf Grundlage eines im Bundestag verabschiedeten Gesetzentwurfs und der daraufhin eingereichten Klage eines Piloten und mehrerer Juristen erklärten sie die im Luftsicherheitsgesetz verankerte Abschussermächtigung für nichtig. Auch eine weitere politische Initiative, die einen Abschuss als „übergesetzlichen Notstand“ auslegen wollte, überzeugte die Karlsruher Richter nicht.

Nach welchen Kriterien wird

informiert?

Der Air-India-Fall hatte erhebliche Konsequenzen – auch am Boden. Nach Recherchen des Westdeutschen Rundfunks waren sieben Betreiber der acht noch in Betrieb befindlichen Atomkraftwerken in Deutschland über den Vorfall informiert. Die Mitarbeiter mussten ihre Arbeitsplätze verlassen, weil AKW als besonders sensible Ziele im Fall eines Terroranschlags gelten. Zunächst hatte es geheißen, nur fünf norddeutsche Meiler hätten evakuiert werden müssen.

Das Bundesinnenministerium teilt schriftlich mit, dass bei dem Vorfall am 10. März der „Voralarm“ an alle Standorte mit Kernkraftwerken übermittelt worden ist. „Ausgenommen sind dabei Kernkraftwerke in der Stilllegung ohne nukleares Inventar.“

Der Schutz des Bürgers ist eine der wesentlichen Aufgaben des demokratischen Rechtsstaates. Wenn die Angaben der Luftwaffe stimmen, erfolgt der „Renegade“-Alarm regelmäßig. Dann stellt sich eine weitere Frage: Wann würden in einem „Worst-Case-Szenario“ alle Bürger und nicht nur die, die beispielsweise in einem AKW arbeiten, informiert? Im Raum steht hierbei sicherlich die Abwägung zwischen der Informationspflicht des Staates und den Folgen, die ein Fehlalarm haben könnte. Innerhalb kürzester Zeit müsste reagiert und informiert werden. So schnell der „Renegade“ ausgelöst wird, so schnell ist er in der Praxis als Fehlalarm ausgemacht. Aber was ist, wenn es doch keiner ist?

Das BMI verweist in dieser Sicherheitsfrage auf bestehende Kompetenzen der Bundesländer. In einer Antwort erklärt das Ministerium: „Die Frage, ob konkrete Sicherheitsmaßnahmen erforderlich sind und wenn ja, welche, sowie ob die Öffentlichkeit informiert wird, liegt in der Zuständigkeit der betroffenen Länder.“

Das Innenministerium in Hannover wiederum verweist auf eine behördliche Ebene darunter – auf Landkreise, kreisfreie Städte sowie die Städte Cuxhaven und Hildesheim als gesetzlich festgelegte Katastrophenschutzbehörden, die für die „Vorbereitung und Bekämpfung von großen Schadensereignissen in Niedersachsen“ zuständig seien. Diese seien somit auch für die Warnung der Bevölkerung vor Gefahren zuständig, Unterstützung in Form von speziellen Meldesystemen erhielten die Kommunen aber aus dem Ministerium. Beispielhaft ist hier die eingerichtete Warn-App NINA zu nennen, die das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe erst kürzlich scharf gestellt hatte.

In einem Warnfall müsste die Behörde zwischen der Sicherheit der Bevölkerung und den nachteiligen Folgen einer Fehlalarmierung sorgsam abwägen, heißt es aus der Abteilung Kommunal- und Hoheitsangelegenheiten des niedersächsischen Ministeriums. Eine Warnung der Bevölkerung mit einem Fehlalarm könne dabei nie hundertprozentig ausgeschlossen werden. „Der Zustand einer Panik durch Fehlalarmierung kann daher nach wie vor als unwahrscheinlich eingestuft werden.“ Das „Renegade“-Szenario stelle laut dem Pistorius-Ministerium eine Besonderheit dar. Die Informationsweitergabe würde zentral von den Luftsicherheitsbehörden unter anderem an die Lagezentren der Länder ergehen und von dort an die Polizeidirektionen in der Fläche weiterverteilt. „Zu einer Warnung der Bevölkerung kommt es auch in diesem Fall aber nur, wenn die Lageeinschätzung auf eine Gefährdung und einen entsprechenden Not- bzw. Katastrophenfall schließen lässt, der entsprechende Maßnahmen erforderlich machen würde“, heißt es in der Antwort auf eine Anfrage unserer Zeitung.

Als der „Renegade“-Alarm am 10. März ausgelöst wird, sind Umweltaktivisten zufällig am AKW in Brokdorf. Cécile Lecomte von der Robin-Wood-Gruppe Hamburg-Lüneburg hält den durchdringenden Alarmton zunächst für einen Scherz. Seit fünf Uhr ist sie vor Ort und demonstriert vor den Werktoren mit ihren Mitstreitern für eine andere Energiepolitik. Am schleswig-holsteinischen Meiler erinnern sie an den Jahrestag der Katastrophe im japanischen Fukushima. „Erst ist die Feuerwehr auf dem Gelände angerückt, dann sind etwa 40 Mitarbeiter in einen Bus wegtransportiert worden. Eskortiert von der Polizei“, erzählt Lecomte.

Um die Sicherheit der Aktivisten habe sich die Polizei nach ihren Angaben nicht gekümmert. „Als wir Informationen bekommen haben, was los ist, haben wir eigentlich auch nur gedacht: Es ist doch egal, ob wir bei einem Flugzeug-Einschlag hier vor Ort oder drei Kilometer entfernt in einer Turnhalle verstrahlt werden.“ Nach etwa einer Stunde seien die AKW-Mitarbeiter wieder zurück im Kraftwerk gewesen.

Niedersachsens Umweltminister Stefan Wenzel (Grüne), dessen Ministerium die Atom-Aufsicht über die AKW in Grohnde, Lingen und Unterweser hat, mahnt mit Blick auf solche Vorfälle eine Überprüfung der Abläufe an. „Es hat sich deutlich gezeigt, dass es Überprüfungsbedarf gibt. Dabei müssen die Anlässe, die Abläufe, die Zuständigkeiten und die Anforderungen an eine verantwortungsvolle Kommunikation auf den Prüfstand.“ Dabei seien weder Beschwichtigung noch Beunruhigung hilfreich, sagte Minister Wenzel. Man werde sich diesbezüglich an den Bund wenden.