Gifhorn. Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer fordert im Interview, auch die Bundesagentur für Arbeit auf den Prüfstand zu stellen.

Welche Anforderungen werden in Zeiten raschen Wandels an einen modernen Sozialstaat gestellt? Wie können wir soziale Sicherheit auch für künftige Generationen sicherstellen? Das war Thema einer Podiumsdiskussion am Montagabend in der Diakonie Kästorf. Auf Einladung des SPD-Bezirks Braunschweig war auch die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer zu Gast.

Der Schulz-Effekt zeigt Wirkung. Ihre Partei erlebt eine einzigartige Eintrittswelle. Was geben Sie den Neumitgliedern mit auf den Weg?

Was mich besonders freut ist, dass es so viele junge Leute sind. Gerade in der heutigen Zeit, in der Rechtspopulisten auf Stimmenfang sind, ist es wichtig, dass sich junge Menschen für die Demokratie engagieren. Ich sage ihnen: Bringt euch ein, lasst uns gemeinsam Politik gestalten.

Wie wollen Sie die Euphorie bis zur Bundestagswahl mitnehmen?

Ich bin überzeugt, dass das gelingen kann. Viele Menschen wollen sich engagieren. Und Martin Schulz war schon immer ein beliebter Politiker; als Kanzlerkandidat gibt er uns jetzt Rückenwind.

Der Kanzlerkandidat Schulz fordert unter anderem Korrekturen an der Agenda 2010, der Bezug des Arbeitslosengeldes I soll verlängert werden, wenn sich Arbeitslose weiterqualifizieren. Außerdem soll das Schonvermögen für Hartz-IV-Empfänger stärker an die Lebensarbeitszeit angepasst werden. Tatsächlich ist die Arbeitswelt jetzt eine andere als zu der Zeit, in der die Agenda 2010 geschmiedet wurde. Brauchen wir eine Agenda 2020?

Wir müssen schauen: Was braucht die Gesellschaft? Sie braucht Sicherheit und Kompetenz, um den Wandel gut meistern zu können. Dafür brauchen wir aber keine neue Agenda, vielmehr müssen wir die Agenda 2010 weiterentwickeln. Der Ansatz, in Menschen zu investieren, indem sie sich besser weiterqualifizieren können, ist der richtige ebenso wie das Schonvermögen stärker an die Lebensarbeitszeit zu koppeln. (Derzeit beträgt es bis zu 10 000 Euro, unabhängig von den geleisteten Arbeitsjahren – Anmerkung der Redaktion). Viele Menschen haben Angst davor, im Alter arbeitslos zu werden und plötzlich vor dem finanziellen Nichts zu stehen.

Wie stellen Sie sich das konkret vor?

Der wichtige Punkt ist das Thema Qualifizierung und die Verlängerung des Arbeitslosengeldes I auf maximal 48 Monate, damit Menschen, die gearbeitet haben, nicht so schnell ins Arbeitslosengeld II fallen. Dazu gehört auch, dass wir die Anrechnungszeiten für das ALG I so verändern, dass die Menschen schneller aus dem ALG II herauskommen.

Beim Schonvermögen gibt es den Vorschlag, es zu verdoppeln – von 150 auf 300 Euro pro Lebensjahr. Aber da werden wir noch diskutieren, wenn das Programm erstellt wird.

Wo sehen Sie noch Korrekturbedarf an der Agenda?

Wir müssen an den Punkt kommen, dass es keine Arbeitslosenversicherung mehr gibt, sondern eine Arbeitsversicherung. Die Bundesagentur für Arbeit muss dafür umgebaut werden: Sie muss stärker mit den Unternehmen kooperieren, um Menschen zu qualifizieren. Außerdem müssen die Maßnahmen für Langzeitarbeitslose auf den Prüfstand, sie sind häufig nicht zielführend.

Wenn Sie über eine Verlängerung des ALG I und die Anhebung des Schonvermögens sprechen, müssen Sie auch die junge Generation im Blick behalten, die all das finanzieren muss. Führt am Ende doch kein Weg vorbei an einer längeren Lebensarbeitszeit und einer Entlastung der sozialen Sicherungssysteme?

Es gibt Berufe, da möchten die Leute länger arbeiten. Es gibt aber auch Berufe in der Industrie, in denen die Menschen nicht länger arbeiten können, weil sie zu belastend sind. Auch diese Menschen müssen eine auskömmliche Rente haben.

Es ist nicht der Zeitpunkt, darüber zu diskutieren, ob die Lebensarbeitszeit weiter verlängert werden muss. Wir müssen aber darüber diskutieren, wie flexibel man den Übergang von der Arbeit in die Rente gestalten kann.

Um noch mal den Blick auf die jüngere Generation zu werfen: Mehr als jeder vierte Minderjährige ist nach einer Untersuchung der Kinder- und Jugendhilfe sozial ausgegrenzt oder von Armut bedroht.

Die Arbeitsgemeinschaft fordert deshalb, das Kindergeld neu zu justieren und Kinder von ärmeren Eltern stärker zu fördern. Eine gute Idee?

Die SPD fordert, das Kindergeld und den Kinderzuschlag zu einem gerechten Kindergeld zusammenzuführen. Hiervon würden vor allem Familien mit geringem Einkommen und mehreren Kindern profitieren.

Um ärmere Familien stärker zu unterstützen, müssen wir aber an unterschiedlichen Stellschrauben drehen. Wir treten vor allem für Gebührenfreiheit der Bildung ein. Bildung ist die beste Investition – nicht nur im Sinne der Familien, sondern auch als wirtschaftliche Zukunftssicherung in Anbetracht fehlender Fachkräfte.