Wolfsburg. Laut US-Justiz gab es intern Widerstand. Volkswagen schließt sich der Darstellung an. Schon 2014 wurde das Strafmaß diskutiert.

Unsere Leserin Stephanie Blaschke schreibt auf unserer Facebook-Seite:

Da werden sich doch bestimmt noch ein paar „alternative Fakten“ finden lassen ...

Dazu recherchierte Christina Lohner

Von „schlimmen Fehlern einiger weniger“ hatte Martin Winterkorn gesprochen, bevor er einen Tag später von seinem Posten als Vorstandschef des VW-Konzerns zurücktrat. Dass das nicht stimmt, belegt das „Statement of Facts“ des US-Justizministeriums. Rund 40 Mitarbeiter waren demnach allein an der Vernichtung von Beweismaterial beteiligt. Außerdem ließen sich Ingenieure die Manipulation von Abgaswerten immer wieder von ihren Managern absegnen, bis hoch zu einem späteren Markenvorstand. Dabei äußerten sie von Anfang an Bedenken gegen den groß angelegten Betrug.

Letzteres könnten durchaus Schutzbehauptungen sein. Doch Volkswagen hat dem Schriftstück der Amerikaner nicht nur zugestimmt, sondern schließt sich der Darstellung der US-Justiz vollständig an. Der Konzern stimme mit dem Statement überein, erklärte ein Sprecher. Trotz der versprochenen lückenlosen Aufklärung wird der Autobauer nun doch keinen eigenen Bericht zu den Ergebnissen der internen Aufklärung durch die US-Kanzlei Jones Day veröffentlichen.

Mit der Formulierung „alternative Fakten“ spielt unsere Leserin auf eine Fehlinformation durch Mitarbeiter von US-Präsident Donald Trump an. Das wird hier nicht der Fall sein, das Statement ist das Ergebnis monatelanger Ermittlungen der US-Behörden. Bis die Staatsanwaltschaft Braunschweig ihre Erkenntnisse veröffentlicht, bleibt der Öffentlichkeit als Alternative zum VW-Bericht allerdings nur das Statement. Es basiert zwar unter anderem auf den Untersuchungsergebnissen von Jones Day, vieles bleibt aber unbeantwortet. Die Schrift beinhaltet nicht alle Fakten, die das US-Ministerium und der VW-Konzern kennen, wie es gleich zu Beginn heißt.

Audi macht den Betrug vor

Die Idee der Betrugs-Software stammt demnach von der Konzerntochter Audi. Als die Motorenentwickler der Kernmarke VW und Mitarbeiter des Ingenieurdienstleisters IAV 2006 realisieren, dass sie keinen Dieselmotor entwickeln können, der sowohl den strengen Stickoxidvorgaben der USA als auch den dortigen Kundenwünschen gerecht wird, entscheiden auch sie sich für Betrug.

Schon im Mai 2006, als ein VW-Ingenieur in einer E-Mail die Funktionsweise der Audi-Software erklärt, warnt er vor deren Einsatz. Sie erkennt, ob sich ein Auto auf dem Prüfstand befindet und trickst den Abgastest somit aus. Die „Akustik-Funktion“, wie sie genannt wird, könne so auf keinen Fall für das Projekt „US’07“ genutzt werden, schreibt der Ingenieur. So wird das strategisch wichtige Ziel genannt, den US-Markt per Diesel zu erobern. Doch ein Abteilungsleiter gibt trotzdem grünes Licht.

Im Herbst 2006 bringen Ingenieure – unterstützt von ihren Führungskräften – weitere Einwände gegen die Abschalteinrichtung vor und geben das Thema an einen Höherverantwortlichen weiter. Sie erklären ihm das Ziel und die Funktionsweise. Auch dieser Manager entscheidet sich fürs Weitermachen – und weist die Anwesenden an, sich nicht erwischen zu lassen.

2007 gibt es dann technische Probleme, die zu Meinungsverschiedenheiten im Team führen, das für die Einhaltung der US-Abgasvorgaben zuständig ist. Die verschiedenen Ansichten werden in einem Meeting diskutiert. Auch der Manager, der diese Runde leitet, erlaubt den Motorenentwicklern, das Projekt „US’07“ fortzuführen. Obwohl er weiß, dass die VW-Diesel die Emissionstests nur per Betrugs-Software bestehen. 2009 kommen die ersten auf den US-Markt.

Zeitgleich hatten sich auch Audi-Ingenieure für diese Vorgehensweise beim größeren 3-Liter-Motor entschieden. Im normalen Straßenbetrieb wird dank der Software weniger Harnstofflösung zur Abgasreinigung (Ad-Blue) verbraucht. Hätte der Tank dafür größer sein müssen, wäre das auf Kosten des Kofferraums gegangen. Außerdem hätten die Fahrer häufiger in die Werkstatt gemusst – beides wichtige Punkte, um auf dem US-Markt mit der Konkurrenz mitzuhalten.

Gegenüber den US-Behörden verheimlichen die Konzernvertreter, wie sie die Vorgaben einhalten. Manche plagen dabei offenbar keine Gewissensbisse. So schickt zum Beispiel ein Manager Fotos an eine andere Führungskraft; zu sehen ist er darauf neben dem damaligen Gouverneur von Kalifornien bei einer Veranstaltung, auf der der Manager die Autos als „Grüne Diesel“ bewarb.

Die Software wird optimiert

Auch technische Probleme im Jahr 2012 führen nicht zu einem Umdenken. Die Wagen bleiben auf der Straße zu lange im Testmodus, was offenbar die Abgasanlage zu stark beansprucht. Nun informieren Motorenentwickler ihren neuen Chef Heinz-Jakob Neußer sowie einen Manager der Konzernabteilung für Qualitätsmanagement und Produktsicherheit, ein enger Vertrauter von Winterkorn. Obwohl beide den Zweck der Software verstehen, ermuntern sie dazu, das Programm weiter zu verheimlichen. Außerdem weisen sie die Ingenieure an, das Dokument zu zerstören, mit dem sie die Funktionsweise erklärten.

Im Anschluss verbessern die Ingenieure die Erkennung der Abschalteinrichtung. Mithilfe des Lenkradwinkels wird nun zwischen Straßen- und Testmodus unterschieden. Bestimmte Konzernmitarbeiter äußern erneut Bedenken, besonders wegen der Optimierung. Sie fordern die Zustimmung weiterer Führungskräfte der Konzern-Motorenentwicklung ein. Neußer gibt im April 2013 sein Ja. Die Diesel, die in den USA bereits auf dem Markt sind, werden für das nötige Software-Update im Jahr danach in die Werkstatt gerufen.

In dem Jahr erfahren VW-Mitarbeiter von der Studie des „International Council on Clean Transportation“ (ICCT), die den Stein ins Rollen bringt, dass der Betrug später bekannt wird. Die Straßentests zeigen, dass die Wagen bis zu 40 Mal so viel Stickoxide ausstoßen wie erlaubt. US-Umweltbehörden fangen an, dem Autobauer Fragen zu stellen, die immer detaillierter werden, und führen eigene Tests durch.

In der Motorenentwicklung bei der Marke VW bildet sich eine Taskforce, die Antworten für die Behörden formulieren soll. Manager, darunter Neußer, entscheiden, den Betrug nicht offenzulegen. Während nach außen Kooperation vorgegaukelt wird, ist die interne Strategie, den Betrug weiter zu verschleiern. Bis in die erste Jahreshälfte 2015 werden Nachrüstungen für Soft- und Hardware angeboten, um das Problem zu lösen.

Die Taskforce macht sich auch über die möglichen Folgen Gedanken. Ende April 2014 präsentiert sie dem Manager aus dem Qualitätsmanagement, dem Winterkorn-Vertrauten, die Ergebnisse der ICCT-Studie. Teil der Präsentation sind die möglichen finanziellen Konsequenzen, wenn die Behörden das „Defeat Device“ entdecken, darunter „beträchtliche“ Geldbußen pro betroffenem Auto.

Als die US-Behörden drohen, keine neuen VW-Modelle mehr zuzulassen, fordern Führungskräfte eine Lagebesprechung. Wer genau zu welcher Zeit an dem Treffen am 27. Juli 2015 teilnimmt und ob allen klar ist, dass die Software gegen die Umweltvorgaben verstößt, ist nach Angaben von VW nicht bekannt. Winterkorn fordert weitere Aufklärung, wie es in einer Pressemitteilung vom März 2016 heißt.

In den Wochen danach wird bei VW und Audi im großen Stil Beweismaterial zerstört. Rund 40 Mitarbeiter löschen tausende von Dokumenten. Sie haben die Aussagen eines Konzernjuristen als Aufforderung dazu interpretiert – um das Unternehmen, aber auch sich selbst zu schützen. Mindestens zwei VW-Mitarbeiter fordern auch IAV-Mitarbeiter dazu auf.

Bei einem Treffen mit den US-Behörden im August 2015 halten VW-Mitarbeiter den Betrug weiterhin geheim. Einen Tag später beendet ein VW-Mitarbeiter das Versteckspiel schließlich – entgegen der Anweisungen seiner Vorgesetzten. Einer von ihnen erweckt auch am 3. September, als er die Manipulation gegenüber den Behörden zugibt, noch den Eindruck, er habe nichts gewusst.

Als später die VW-interne Untersuchung beginnt, können viele der gelöschten Dokumente wiederhergestellt werden.

Im November 2015 geben Audi-Vertreter zu, dass auch bei den 3-Liter-Motoren eine illegale Abschalteinrichtung verbaut ist. Gut zwei Wochen zuvor hatte der VW-Konzern das noch geleugnet.