Salzgitter. Die Pädagogin Julia Gillen fordert Konsequenzen für die Schulen aus den Angriffen auf die Feuerwehrmänner in Salzgitter.

Unser Leser Rüdiger Reupke aus Isenbüttel sagt:

Alle Schuldirektoren sollten sich von diesem traurigen Geschehnis in Salzgitter dazu aufgerufen fühlen, dieses Thema ganz oben auf ihre schulische Tagesordnung zu stellen.

Die Antwort recherchierte Hannah Schmitz

Immer wieder gehen Meldungen durch die Medien, die von Angriffen auf Rettungskräfte berichten. Zuletzt schockierte ein Vorfall in Salzgitter-Thiede unsere Region: Partygäste, die sich in der Hofeinfahrt der Freiwilligen Feuerwehr niedergelassen hatten, sollen Einsatzkräfte daran gehindert haben, auszurücken. Die Situation eskalierte derart, dass zwei der Kameraden in Zivil mit Brüchen und Verletzungen ins Krankenhaus kamen. Mit der Direktorin der Fakultät für Lehrerbildung der Leibniz-Universität Hannover, Prof. Dr. Julia Gillen, spricht Hannah Schmitz über die Gründe für solche Attacken und darüber, wie sie verhindert werden können.

Frau Gillen, geht der Respekt vor Feuerwehrmitgliedern und Polizisten unserer Gesellschaft verloren?

Ja, der Respekt vor ihnen nimmt tatsächlich stärker ab. Das merken Feuerwehrleute, Polizisten, Soldaten, aber auch Politiker. Auch die werden anders behandelt als vor zehn Jahren.

Was ist denn der Grund für diese

Entwicklung?

Rettungskräfte werden von einigen als Teil der Obrigkeit wahrgenommen. Angriffe gegen sie sind auch Angriffe gegen die, gegen die man eh’ schon ist. Hier kommt langsam ein Klassenkampf durch.

Außerdem fehlt in unserer Gesellschaft der Druck von außen: Wir leben seit fast 80 Jahren in Frieden und mussten uns nicht gemeinsam nach außen verteidigen.

Bei manchen entsteht dadurch das Gefühl, sie brauchen das Kollektiv nicht.

Wie können wir denn auch in friedlichen Zeiten die Gemeinschaft stärken?

Wir brauchen Aufklärung. Das einzige, was wirkt, ist, unsere gesellschaftlichen Werte in Deutschland stärker zu benennen. Wir müssen deutlich machen, was mit unserer Gesellschaft passieren würde, wenn diese Werte nicht mehr existierten.

Welche guten Gründe gibt es für den gesellschaftlichen Zusammenhalt?

Sehr viele. Man kann es zum Beispiel positiv bewerten, dass wir uns hier in Deutschland auf bestimmte Werte geeinigt haben und auch etwa ein Kranken- und Gesundheitssystem haben. Alle zahlen dort ein, damit auch alle etwas bekommen, wenn sie krank sind. Es muss klarwerden: Damit es uns weiterhin so gut geht, müssen wir weiterhin auch in Werte investieren sowie in gemeinschaftliche Projekte wie zum Beispiel Sozialabgaben.

Geht es uns zu gut, um wertzuschätzen, was wir haben?

Die Menschen, die diese Übergriffe verüben, sehen den Zusammenhang zwischen ihrem persönlichen Wohlstand und den Leistungen der Gesellschaft nicht mehr. Das ist eine sehr beschränkte Sicht auf den eigenen Kontext. Es ist nicht mehr klar: Warum geht es mir überhaupt gut? Der Kantsche Imperativ zählt nicht mehr: Überleg’ mal, was wäre, wenn alle so handeln würden wie du?

Dabei sind doch vor allem ehrenamtliche Feuerwehrmänner und -frauen Stützen der Gesellschaft?

Angriffe treffen sie deshalb auch besonders schwer. Die Menschen, die dort arbeiten, fühlen sich unseren Werten sehr verpflichtet. Man wird ja nur Feuerwehrmann oder Polizist, weil man der Gesellschaft dienen will.

Wie kann diese Entwicklung wieder rückgängig gemacht werden?

Entweder, diese Menschen erleben etwas, was sie wieder besinnen lässt – das ist aber nicht wünschenswert. Oder Bildungsinstitutionen und Medien machen wieder klar, dass bestimmte gesellschaftliche Werte zu unserer Verfasstheit gehören. Und das lieber eher präventiv als nachsorgend.

Müssen wir die Wertevermittlung in Schulen also verstärken, wie es unser Leser fordert?

Ja, auf jeden Fall. Solche Anlässe wie dieser sollten als Ausgangpunkt genommen werden, um die Werte der Demokratie wieder zu benennen und in Erinnerung zu rufen. Sie sind bereits Teil der Schulleitprogramme und als Grundrauschen in den Schulen vorhanden. Wir müssen sie wieder hervorheben. Und zwar stärker als bisher. Das kann im Politik- , im Werte- und Normenunterricht, aber auch im Sach-, Religions- oder Deutschunterricht geschehen. Es gibt viele Zugänge.

Sind denn nur Schulen in der Pflicht? Findet Wertevermittlung nicht auch zu Hause statt?

Das Thema Respekt gehört eigentlich schon in die frühkindliche Bildung. Da geht es auch schon darum, den Kindern zu verbieten, sich zu hauen. Gleichzeitig schaffen es die Bildungsinstitutionen nicht alleine, wenn in Familien häusliche Gewalt herrscht oder in der die „Bullen immer die Blöden“ sind.

Wenn Freunde, Familie und Vorbilder dafür sorgen, dass eine schlechte Meinung über solche Hilfskräfte und Institutionen herrscht, dann kann Schule zwar versuchen diese Vorstellungen aufzubrechen, aber genau wie bei politischen Meinungen ist das ein hartes Brot. Menschen werden durch die Menschen sozialisiert, die ihnen wichtig sind.

Dennoch ist der Fall in Salzgitter auch ein Fall für die Schule?

Die große Frage ist doch genau die: Wie gehen Schulen oder Bildungsinstitutionen eigentlich mit solchen Katastrophen um? Als Lehrer ist es unsere demokratische Aufgabe – wir werden alle vom Staat bezahlt – an genau solchen Punkten unsere Werte einzufordern. Ähnlich war das bei der Wahl von Trump. Das würde ich von Lehrerinnen und Lehrern erwarten, auch ohne Lehrplan, solch ein Geschehen mal zum Anlass zu nehmen, zu fragen: Habt ihr eigentlich gehört, was da passiert ist, in der Silvesternacht? Genauso müsste jede Familie in Salzgitter eigentlich einmal am Frühstückstisch darüber reden: Was ist da eigentlich passiert?