Braunschweig. An der B 6 bei Hannover soll der bundesweit erste Streckenradar die Tempo-Messung revolutionieren.

Unser Leser Andreas Schlump erklärt auf den Facebook-Seiten unserer Zeitung:

Das Ding steht doch schon längst , kurz vor Laatzen. Oder fehlen noch die Innereien?

Die Antwort recherchierte Dirk Breyvogel

Die Frage des Lesers stellt sich – so oder so ähnlich – auch für Christine Rettig, Pressesprecherin des ADAC in Niedersachsen. „Ich wundere mich schon, warum die Zulassung durch die PTB so lange dauert und sich die Scharfschaltung der Messanlage an der Bundesstraße 6 immer wieder verzögert.“

„Hält sich der Fahrer an das Tempo, werden sämtliche Daten gelöscht.“
„Hält sich der Fahrer an das Tempo, werden sämtliche Daten gelöscht.“ © Dr. Frank Märtens, PTB

Frank Märtens, Leiter der Arbeitsgruppe Geschwindigkeitsmessgeräte an der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB), weist auf die Komplexität der Genehmigungsverfahren hin, die im Zusammenhang mit der Inbetriebnahme der Geräte für die sogenannte „Section Control“ notwendig sind. „Die Technik ist neu, und sie muss funktionieren, weil sie möglicherweise Vorbild für alle weiteren Inbetriebnahmen in Deutschland ist. Die gründliche Prüfung ist unabdingbar, sie garantiert, dass später niemand zu Unrecht des Rasens beschuldigt wird“, sagt Märtens. Der PTB-Ingenieur geht allerdings davon aus, dass in diesem Jahr die Zulassung erfolgt, bestenfalls schon im Sommer.

Als Ausgangspunkt für das bundesweit bislang einzigartige Pilotprojekt gilt die Empfehlung des Goslarer Verkehrsgerichtstags aus dem Jahr 2009. Dieser hatte der Politik vorgeschlagen, eine Teststrecke für diese Messtechnik in Deutschland einzurichten – an einem Streckenabschnitt mit einer Häufung tödlicher, geschwindigkeitsbedingter Unfälle. Eine Messmethode, die in vielen anderen europäischen Ländern schon seit Jahren im Straßenverkehr mit großem Erfolg angewendet wird. Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD) griff den Tagungsvorschlag auf. Sein Ziel: Niedersachsen sollte Vorreiter bei Test und Einführung von „Section Control“ sein.

Wissenschaftler Märtens erläutert, wie künftig zwischen Sarstedt und Laatzen die Geschwindigkeit der Autofahrer erfasst und überwacht werden soll. An der B 6 wurden zwei Messbrücken mit der entsprechenden Technik aufgebaut. Sie begrenzen die Teststrecke, die 2,2 Kilometer lang ist und sich schon seit 2015 im Testlauf befindet.

„In diesem Abschnitt gilt Tempo 100. Von jedem Auto, das die erste Messbrücke passiert, erstellt die digitale Kameratechnik eine Heckaufnahme und versieht sie mit einem Zeitstempel. Aus der Aufnahme wird das Kennzeichen extrahiert, dies erfolgt aber nicht als Klartext, sondern verschlüsselt. Das entspricht quasi einem nicht rückverfolgbaren Fingerabdruck des Fahrzeugs. Die Prozedur wiederholt sich an der zweiten Messstelle. Können zwei gleiche Fingerabdrücke gefunden werden, kann die Durchschnittsgeschwindigkeit anhand der Streckenlänge und der zeitlichen Differenz der Aufnahmen berechnet werden. Hält sich der Fahrer an das vorgeschriebene Tempo, werden am zweiten Messpunkt sämtliche Daten, auch die der ersten Messbrücke, gelöscht“, erklärt Märtens.

Er betont, dass bei der geeichten Strecke die kürzeste Verbindung zwischen den Brücken zugrunde gelegt wird. Fahrmanöver, wie Kurvenfahrten und Fahrstreifenwechsel, die das Fahrzeug des Betroffenen vollführt, wirkten sich so stets zu dessen Gunsten aus.

Liegt die durchschnittliche Geschwindigkeit dagegen über der zulässigen Höchstgeschwindigkeit, löst eine zentrale Anlagensteuerung eine dritte Kamera aus und fertigt ein Frontfoto zur Identifizierung des Fahrers und des Kennzeichens. Um eine zweifelsfreie Beweisführung sicherzustellen, wird zeitgleich ein zusätzliches Heckfoto erstellt. „Dieses Zusammenspiel der Technik ist komplex. Wenn das Messgerät von der PTB das Siegel erhält, muss jeder Autofahrer sicher sein, dass es keine unzulässige Messabweichung gibt.“

Datenschutzrechtliche Bedenken spielen immer wieder eine Rolle, wenn es um die systematische Erfassung von Datensätzen geht. Für dieses Pilotprojekt hat die Datenschutzbeauftragte des Landes Niedersachsen, Barbara Thiel, ihre Zustimmung gegeben. Der Streckenradar erfülle die Vorgaben. Der Sprecher der Behörde, Mattias Fischer, sagte allerdings gegenüber unserer Zeitung: „Für den Probebetrieb haben wir grünes Licht geben. Sollte sich nach den 18 Monaten eine reguläre Verkehrsmessung anschließen, müsste noch mal gesetzlich nachgesteuert werden. Das wurde aber auch zugesagt.“

Frank Märtens weist darauf hin, dass ab dem Tag der Zulassung auf dem Streckenabschnitt auch amtliche Verkehrsüberwachung betrieben werden darf, sofern die Geräte entsprechend geeicht sind. Das ist auch angedacht, stehe aber nicht im Vordergrund. „Es sollen Erkenntnisse gewonnen werden, die unter anderem Aufschluss über das Fahrverhalten geben sollen. Wie verändert sich die Fahrweise der Verkehrsteilnehmer, wenn auf einer langen Strecke das Tempo kontrolliert wird? Kommt es zu einer erhofften Harmonisierung des Verkehrsflusses? Verringert sich die Anzahl von kritischen Fahrmanövern und somit die Gefahr schwerer Verkehrsunfälle? Diese und andere Thesen sollen ergebnisoffen überprüft werden“, erklärt Märtens die wissenschaftliche Zielsetzung, an deren Umsetzung die PTB beteiligt ist.

Gerade die Ergebnisoffenheit zweifelt der ADAC an. Das Modell eines Streckenradars wird in den Reihen des größten deutschen Automobilverbands mit großer Skepsis diskutiert. „Section Control“ stelle alle Autofahrer unter einen Generalverdacht, heißt es in einer Stellungnahme aus dem Juni 2016. Soweit will Rettig aktuell nicht gehen: „Sollte die neue Messtechnik das Verhalten des Autofahrers wirklich positiv verändern, haben wir natürlich nichts dagegen. Das Problem ist doch ein anderes: Es ist zu befürchten, dass bei der Höhe der schon getätigten Investitionen in den Testbetrieb das Pilotprojekt automatisch dazu verdammt ist, eine Erfolgsgeschichte zu werden.“

Das niedersächsische Innenministerium erhofft sich durch die neue Messanlage eine Sensibilisierung der Autofahrer. Die ersten wissenschaftlichen Erkenntnisse aus der Phase des Testbetriebs seien durchaus positiv. „Das Geschwindigkeitsniveau ist auf diesem Streckenabschnitt nach unten gegangen ist“, sagt Sprecherin Nadine Bunzler.

ADAC-Sprecherin Christine Rettig plädiert mit Blick auf die Verkehrssicherheit dafür, die Ergebnisse einem Vergleich mit den bislang üblichen Messtechniken zu unterwerfen. „In anderen Ländern, in denen das System heute als Erfolgsmodell gilt, fehlten die Alternativen.“ Eine ehrliche Analyse, ob sich dadurch wirklich die Sicherheit auf den Autobahnen erhöht hat, habe auch hier gefehlt, so Rettig.