Braunschweig. Die Spurensuche im Nachlass von Charlotte W. bringt den Braunschweiger Propst Armin Kraft in Bedrängnis.

Unser Leser Harald Menges aus Braunschweig fragt:

Mir gefällt die Darstellung um die Geldgeschenke an Propst Armin Kraft überhaupt nicht! Ich frage: Was treibt die Zeitung an?

Die Antwort recherchierten Henning Noske und Ann Claire Richter

Der Wohnzimmertisch im Haus der Horas ist über und über mit Akten, Heftern, Kalendern, Notizbüchern und Zettelsammlungen bedeckt. Ellen Hora ist die Testamentsvollstreckerin von Charlotte W., die vor zwei Jahren, am 5. November 2014, verstorben ist. Seitdem arbeitet Ellen Hora an ihrem Auftrag als Testamentsvollstreckerin: Sie hat Vermögenswerte zu ermitteln, die dann auf die zehn Parteien aufgeteilt werden, die im rechtsgültigen Testament von Charlotte W. festgehalten sind. Eine dieser zehn Parteien sind auch Ellen Hora und ihr Mann Guido, der sie in ihrer Arbeit unterstützt.

Beim Sichten der umfänglichen Dokumente des Nachlasses der alten Dame fiel den Horas immer wieder ein Umstand auf, der jetzt für eine heftige Diskussion in Braunschweig sorgt. An etlichen Stellen tauchen sehr hohe Geldsummen im Zusammenhang mit dem Namen Armin Kraft auf. Und der war Domprediger und Propst der Landeskirche Braunschweig und Spendenbeauftragter des Braunschweiger Oberbürgermeisters für die Bekämpfung der Kinderarmut.

Eine sechsstellige Summe, rund 100 000 Euro, kommt so zusammen. Der frühere Propst Armin Kraft räumt dies im Interview mit unserer Zeitung auch ein. Doch er sagt auch, dies habe sich aus einem „privat-familiären Verhältnis“ ergeben. Charlotte W. habe er im Gottesdienst im Dom kennengelernt, sie sei auch zur Bibelstunde gekommen.

Über vier Jahrzehnte hinweg sei dann eine tiefe Freundschaft zur Familie entstanden, in der man sie „Tante“ genannt habe. Mittlerweile hat die Landeskirche ein Disziplinarverfahren gegen den früheren Propst eingestellt. Sie habe die Vorwürfe eingehend geprüft, könne sich zu diesen jedoch inhaltlich nicht äußern. Dazu sei sie nach dem kirchlichen Disziplinarrecht verpflichtet, weil es sich um Vorgänge handele, die länger als vier Jahre zurückliegen.

Doch jetzt sind neue Vorwürfe aufgetaucht. „Wo ist das Gold?“, fragte der Norddeutsche Rundfunk (NDR) in seinem Fernseh-Magazin „Hallo Niedersachsen“ am Dienstagabend, nachdem der Sender mit einem Beitrag im TV-Magazin „Markt“ in der vergangenen Woche den Fall publik gemacht hatte. Charlotte W. habe Goldbarren im Wert von 800 000 Mark besessen, die verschwunden seien. Zudem habe Armin Kraft eine Konto-Vollmacht für das Konto von Charlotte W. besessen.

Unsere Zeitung besuchte Ellen und Guido Hora und hatte die Gelegenheit, die Dokumente und Unterlagen zu sichten. Sie kombiniert nun die Informationen, die sie gewonnen hat, mit Erkenntnissen aus einem umfangreichen Interview, das sie mit Armin Kraft nach Bekanntwerden der Vorwürfe geführt hat. Außerdem kann die Redaktion mittlerweile aus einer Fülle von Hinweisen schöpfen, die ihr aus Kreisen der Landeskirche unter dem Siegel der Verschwiegenheit gemacht wurden.

Am Wohnzimmertisch im Hause der Horas erschließt sich uns nach mehrstündigem Studium das Bild einer tiefen Verbindung von Charlotte W. zu Armin Kraft und seiner Familie. Wir sichten eindeutige Dokumente:

Aus einem Schriftstück der Nord-LB geht unmissverständlich hervor, dass Armin Kraft von 1997 bis 2011 mit einer Vollmacht über das Konto und damit das Vermögen von Charlotte W. verfügen konnte. Die Vollmacht trägt die Unterschrift von Armin Kraft und Charlotte W.

In einer Aufstellung der Nord-LB über die Vermögenswerte von Charlotte W. ist unter der Bezeichnung Metallwerte festgehalten: „800 TDM“

In den täglichen Aufzeichnungen von Charlotte W. des Jahres 2011 geht es ausführlich um Goldbarren und Goldpreise. In einem Schreiben an Armin Kraft und seine Frau, das unsere Redaktion einsehen konnte, geht es darum, dass eine bestimmte Kilo-Menge Goldes für ein Mitglied der Familie bestimmt gewesen sei.

In einer Tagebucheintragung heißt es: „Die Barren sind schon weggegeben. A,A,A!“ An einer anderen Stelle: „9 Uhr A. ruft an! ... damals waren d. B. nicht so viel wert.“ Am nächsten Morgen steht Charlotte W. bereits um 4.30 Uhr auf, um ab 7.30 Uhr bei der Bank vorstellig zu werden. Sie widerruft die Kontovollmacht für Armin Kraft.

In den Unterlagen überzeugt sich die Redaktion zudem davon, dass zusätzlich zum rechtskräftigen Testament ein zweites Testament existiert, das am 5. Oktober 2014 – einen Monat vor dem Tod von Charlotte W. – handschriftlich von Armin Kraft gefertigt und von ihr unterzeichnet wurde. Es setzt Armin Kraft erneut zum Alleinerben ein, ist jedoch nicht rechtsgültig, weil das Amtsgericht erkannte, dass es nicht durchgehend von Charlotte W. selbst verfasst worden war.

Kraft hatte dazu im Interview mit unserer Zeitung erklärt: „Mir war durchaus bewusst, dass dieses Testament rechtlich nicht einwandfrei war. Ich wollte das Geld auch gar nicht, hatte die Nase voll von diesem Hin und Her. Aber sie hatte keine Ruhe gelassen mit dem Testament, wollte mich unbedingt wieder einsetzen.“

In den Aufzeichnungen und Unterlagen sichtbar wird eine tief religiöse, gebildete und kulturbeflissene Frau, die mit hoher Wachsamkeit und Aufmerksamkeit zahllose Vorgänge auch noch kleinster Art notierte.

Sie vermerkt tägliche Alltagsdinge, Gaddafis Tod, Veranstaltungen in Stadt, Region, Berlin. Es wird deutlich, dass sie sich zum früheren Propst und seiner Familie als Ersatzfamilie hingezogen fühlte und dort ebenso aufgenommen war. Ihr eigener Mann war mit 49 Jahren früh gestorben – und ihre Ehe war kinderlos geblieben.

In Krafts Wohnort Riddagshausen bietet der Vorfall derzeit besonders viel Gesprächsstoff. Die Bevölkerung ist gespalten, was sie von der Sache halten soll, doch die meisten wollen bei unserer Recherche nicht mit Namen genannt werden. „Die eine Hälfte des Ortes schüttet Häme über den ehemaligen Dorfpfarrer aus, die andere Hälfte hat Mitleid“, sagt ein alteingesessener Riddagshäuser. „Viele haben den Eindruck, er brauche Hilfe und keine Prügel mehr.“ Kraft wisse längst sehr genau, was falsch gelaufen sei. „Das hat man ihm ja inzwischen deutlich gezeigt.“ Jetzt liege er am Boden. Da müsse man nicht mehr darauf herumtrampeln, sagt ein Dorfbewohner.

Andere stören sich sehr an Krafts Worten im Interview mit dem NDR. Er habe sich sehr abfällig und respektlos über die alte Dame geäußert, wenn er sage, sie sei ihm „auf den Geist gegangen“ und habe sich bei der Familie Kraft förmlich eingekauft. „Das geht gar nicht“, sagt einer unserer Gesprächspartner, und er ist nicht allein mit der Meinung, der Kirchenmann habe sich in der ganzen Sache unklug verhalten. „Er hätte sich bei seiner Rechtfertigung beraten lassen müssen.“ Kraft sei jedoch ein Mensch, der glaube, alles zu können, und mit Worten auch oft recht schnell und unüberlegt heraus.

Braunschweigs Dompredigerin Cornelia Götz erklärte auf unsere Anfrage nach der Entscheidung der Kirchenregierung: „Mir wäre es lieber gewesen, die Landeskirche hätte zum Ausdruck gebracht, dass das eine ganz schwierige Geschichte ist.“ Weil die Menschen zu Recht die Erwartung hätten, dass Kirche sich zu solch einer Enttäuschung verhalte, dass sie dazu etwas zu sagen habe. „In unserem Beruf kommt es immer wieder vor, dass Menschen ihre Sehnsucht nach Nähe auf uns übertragen. Da wollen sie uns eine Freude machen, etwa mit einem Stück Kuchen – das aber eigentlich dem Enkelkind gegolten hätte.“ Manchmal bekomme man auch Geld angeboten: „Und das darf man nicht nehmen!“ Man könne dem Geber dann gute Zwecke vorschlagen, „und die dürfen natürlich auch kirchlich sein“.

Braunschweigs Pröpstin Uta Hirschler betont, dass sie die Vorwürfe nur aus den Medien kenne und den Sachverhalt somit nicht bewerten könne. Auch sie fand Äußerungen Armin Krafts über Charlotte W. unpassend. „So habe ich ihn aber nie erlebt.“ Für sie als Pröpstin sei es aber wichtiger, dass die Pfarrerinnen und Pfarrer der Propstei und auch die ehrenamtlichen und hauptamtlichen Mitarbeiter eine große Betroffenheit verspürten bis hin zur Fassungslosigkeit.

„Natürlich würden die meisten Pfarrer sagen: Wir fühlen uns ausreichend bezahlt und sind finanziell unabhängig.“ Die Frage nach Geldgeschenken stelle sich einfach nicht. „Wir sammeln Geld für wohltätige Zwecke.“ Kraft sei ein verdienter Mitmensch unserer Stadt, betonte die Pröpstin. „Was haben wir davon, wenn wir ihn kaputt machen?“ Die Kirche kenne und pflege eine Kultur der Neuanfänge, „die allerdings geklärte Fakten und – im kirchlichen Jargon – Reue voraussetzt“.