Berlin. Im Berliner Digital Lab von VW entstehen digitale Mobilitäts-Anwendungen, um den Verkehr zu steuern oder Parkplätze zu suchen.

In der „Esswirtschaft“ werden Black Burger in schwarz-blauen Brötchen gereicht, dazu sprudelt eine Fritz-Limo. Die Leere auf dem Gang zwischen der Damen- und der Herren-Toilette füllt als kultige Deko eine Wurlitzer Musikbox in der kantig deutschen Ausführung der 60er/70er Jahre. Hinter den Fenstern glitzert und schmatzt die hier erstaunlich breite Spree. Das Publikum ist jung und international.

Die Atmosphäre im Gründerzeitgebäude am ehemaligen Berliner Osthafen an der Stralauer Allee ist lässig-cool. Allerdings wird hier nicht nach Feierabend entspannt. Stattdessen treffen sich dort die Beschäftigten der umliegenden Unternehmen. Die kommen aus der Medienbranche und seit neuestem auch aus der Automobilwirtschaft.

Zwei Etagen über der „Esswirtschaft“ ist in loft-artigen Räumen das neueste Digital Lab von VW untergebracht. Zwar ist Wolfsburg das Herz des Volkswagen-Konzerns. Allerdings wird die Zukunft des Autobauers nicht mehr allein am Mittellandkanal gestaltet. Das gilt ganz besonders für Techniken wie die Digitalisierung des Autos und der Mobilität.

In Wolfsburg, München und San Francisco hat Volkswagen daher bereits sogenannte Digital Labs eingerichtet. Abseits des Tagesgeschäfts in den Auto- und Komponenten-Werken und bewusst auf Distanz zur Wolfsburger Zentrale – mit Ausnahme des Wolfsburger Labs natürlich – arbeiten dort Software-Experten an Lösungen für die Mobilität von morgen. In Berlin wird ein VW-spezifisches digitales Ökosystem entwickelt.

Dessen Prinzip: Durch immer mehr digitale Anwendungen und Dienstleistungen mit viel praktischem Nutzen sollen die Kunden an die Konzernmarken gebunden werden.

Apple und Amazon sind die Vorbilder und Vorreiter: Wer sich als Kunde auf deren Systeme eingelassen und mit ihnen vertraut gemacht hat, verlässt sie nicht so schnell wieder. Zu groß wäre der Aufwand, in ein neues System zu wechseln, zu schmerzhaft wohl der Verlust komfortabler und damit liebgewonnener Dienstleistungen.

Getrieben wird die Entwicklung der VW-Ökosysteme – es soll zum Beispiel auch eines für die Nutzfahrzeug-Kunden geben – von der Überzeugung, dass es in Zukunft nicht mehr ausreicht, „nur Blech zu biegen“, um die Kunden zu überzeugen. Anders ausgedrückt: Der Kunde will nicht nur ein schickes, sparsames, zuverlässiges Auto, sondern auch die Anbindung ans Internet und zahlreiche Anwendungen.

Daten sind der Lebenssaft

für das VW-Ökosystem

Der Lebenssaft dieser Ökosysteme besteht aus Daten, die aus den Fahrzeugen selbst oder auch aus Smartphones gesammelt und ausgewertet werden. So sollen Autos zum Beispiel künftig freie Parkplätze erfassen und melden. Diese Informationen werden dann gebündelt, aufbereitet und an andere Mitglieder des Ökosystems weitergeleitet.

Wenn das Auto von Herrn Schulz durch die Wolfsburger Goethestraße fährt und freie Parkplätze erfasst, könnte davon Frau Meier profitieren, die in einigen Minuten mit ihrem Auto die Goethestraße erreicht und dort eine Stellfläche sucht.

Ein anderes Beispiel: Aus Verkehrsdaten, die von Städten erfasst werden, aus Smartphone-Daten, aus Daten der Konzernfahrzeuge und aus Wetterdaten sollen künftig Staugefahren berechnet werden. Und mehr noch: Wird eine Staugefahr erkannt, soll zugleich eine Ausweichstrecke empfohlen werden.

Doch sind dies noch Beispiele aus der Anfangsphase des VW-Ökosystems. Ziel der Software-Entwickler ist es, alle sechs bis acht Wochen eine neue Anwendung anzubieten oder eine bestehende Anwendung um neue Funktionen zu erweitern. Das Spektrum der Anwendungen scheint unbegrenzt. Ein ganz großes Thema bei dieser Strategie wird und muss also der Datenschutz sein.

Für VW arbeiten in Berlin rund 50 Software-Experten. Etwa 30 sind beim Autobauer angestellt, etwa 20 beim US-Software-Experten Pivotal. Beide Unternehmen haben im vergangenen Frühjahr eine Zusammenarbeit vereinbart.

Von Pivotal wollen die Wolfsburger auch lernen, wie Software am effizientesten entwickelt wird. Anders als es so manches IT-Klischee unterstellt, ist der Tagesablauf im Berliner Lab straff organisiert. Der Arbeitstag beginnt um 8.30 Uhr mit einem Frühstück, danach folgt eine kurze Besprechung, dann geht es an die Projekte. Um 17 Uhr ist Schluss. Dieser Rhythmus soll die Mitarbeiter vor Überlastung schützen.

Die Arbeitsweise unterscheidet sich deutlich von der in anderen Branchen. Gearbeitet wir meist in Zweierteams. Beide Mitarbeiter sitzen nebeneinander und sehen auf ihrem Monitor exakt dasselbe. Während einer von ihnen die Aufgabe – etwa eine Programmierung – bearbeitet, werden die Arbeitsschritte vom Teamkollegen kommentiert und kontrolliert.

So können sich beide Mitarbeiter sofort über mögliche Probleme austauschen und Verbesserungsvorschläge machen. Beide Mitarbeiter tauschen zudem regelmäßig die Position. Dieses Vorgehen soll das Arbeitstempo erhöhen und durch das Vier-Augen-Prinzip Fehler vermeiden. Im Gang zwischen den Arbeitsplätzen stehen Schalen mit Obst – Nervennahrung.

In die Programmierung von Anwendungen sollen nicht nur theoretische Annahmen aus der Planung einfließen, sondern vor allem konkrete Wünsche der Kunden. Die werden unter anderem von Agenturen nach genau definierten Vorgaben ausgewählt. Die Protokolle aus den Gesprächen mit den Kunden werden in einzelne, eindeutig formulierte Sätze zerlegt, aus denen dann die Funktionen für die digitalen Anwendungen programmiert werden.

Für das Lab fließen Gelder aus dem Innovationsfonds

Finanziell unterstützt wird das Berliner Digital Lab mit Mitteln des VW-Innovationsfonds. Der wurde bereits 2006 auf Bestreben des Betriebsrats eingerichtet und soll neue Geschäftsfelder erschließen. Und genau das soll in Berlin mit der Entwicklung neuer Anwendungen geschehen.

Zu ihren Aufgaben wird es in Zukunft auch gehören, die unterschiedlichen Verkehrsmittel möglichst eng zu verzahnen. Denn absehbar ist, dass das Auto als das zentrale Verkehrsmittel an Bedeutung verlieren wird. Das gilt insbesondere in Metropolen.

Zwar werden die Menschen mobil bleiben wollen, das wird aber nicht mehr in der Ausprägung wie bisher an das Auto gekoppelt sein. Auch dieser Trend spiegelt sich im Berliner Digital Lab. In der Garderobe stehen ganz selbstverständlich Tretroller, mit denen Mitarbeiter ins Büro fahren.