Calais. Frankreich räumt sein Lager an der Küste, den „Dschungel“ von Calais. Eine Lösung bringt das nicht.

Flüchtlingslager in Calais

Aus Lautsprechern wummern orientalischer Gesang und lauter Bass. Menschen stehen vor den Hütten aus Holz und den Zelten und wärmen ihre Hände über Lagerfeuern aus Plastik, Holzlatten und Papier. Qualm zieht durch die Nacht über dem „Dschungel“ von Calais. Es ist kalt. Noch vor einer Stunde waberten Wolken aus Tränengas durch das Camp.

Eine Gruppe Flüchtlinge soll Dixi-Toiletten verbrannt haben, die Polizei schritt ein. Steine und Flaschen flogen. Es sind Bilder von Ausschreitungen, die in den vergangenen Wochen immer wieder aus Calais in die Welt gingen. Jetzt macht nur der Bass Krawalle. Und ein junger Afghane steht am Feuer und sagt: „Wer weiß, was morgen kommt.“

Morgen ist da, und Mohammed kniet nach einer Nacht mit wenig Schlaf auf dem Sand zwischen Planen, vollen Müllsäcken, Essensresten und Wäscheleinen. Er holt einen Topf, gießt Wasser ein. „Mein letzter Kaffee im Dschungel“, sagt der Mann aus dem Sudan. Er lächelt. Er ist froh. Endlich passiert etwas. Auch wenn er nicht genau weiß, was.

Gleich wollen Mohammed und seine Freunde los. Mit Rucksäcken und Plastiktüten zur Halle, wo die Behörden ihre Namen registrieren und sie in Busse verteilen, dann in andere Camps in Frankreich schicken. Heißt es zumindest. Vieles hat er nur gehört, von anderen Sudanesen, von Helfern. Aber er sagt: „Alles ist besser als hier.“ Mohammed flieht aus dem Dschungel.

Für Menschen wie Michael McHugh ist das gut. Er läuft vor den Containern hin und her, die neben dem „Dschungel“ mit Hütten und Zelten stehen, und redet mit jungen Flüchtlingen. Er ist Helfer der Organisation „Refugee Youth Service“. „Geht jetzt, nehmt alle eure Sachen mit, Handy, Geld. Seid vorsichtig. Aber geht jetzt.“ Immer wieder spricht er diese Sätze. Seit acht Monaten hilft McHugh hier.

Die französischen Behörden hatten es seit Monaten immer wieder angekündigt. Sie räumen das Lager von Calais, in dem zeitweise 10 000 Menschen ausgeharrt haben sollen, und in dem immer noch zwischen 5000 und 7000 Flüchtlinge überleben. Mohammed aus dem Sudan war acht Monate hier.

Seit Montag früh um 8 Uhr fahren die Busse weg vom Camp. „Unser Ziel ist, alle 15 Minuten ein Bus“, sagt ein Mann von der Behörde für Migration und Integration. Immer mehr Menschen reihen sich ein, zwischen den Absperrgittern vor der großen Halle, in der die Menschen registriert werden. Menschen tragen Koffer auf ihren Köpfen, weil das Gedränge zu stark ist. Vierzehnjährige schieben sich durch die Masse, Seite an Seite mit Vierzigjährigen.

Polizisten stemmen sich gegen die Gitter, rufen durch ein Megafon: „Links! Links!“ Aber niemand versteht sie. „Solange die Leute freiwillig kommen, läuft es gut“, sagt der Behördenmann. Gut heißt: Ohne Ausschreitungen. Das hatten alle befürchtet.

In großen Zelten, die in der kühlen Betonhalle aufgeschlagen sind, sammeln sich die Gruppen, Eritreer, Afghanen, Sudanesen, Somalier. Viele Menschen aus Afrika, viele noch Teenager. Fast alle Männer. Wenn 50 Menschen zusammen sind, werden sie in Busse gebracht, die vor dem Gebäude warten. 450 Aufnahmezentren gibt es in Frankreich.

Mohammed hat aufgehört, die Versuche zu zählen, sein Ziel zu erreichen. England. Er hat es auf Ladeflächen von Lastwagen probiert, zu Fuß, er ist auf einen Zug aufgesprungen, um durch den Eurotunnel zu kommen. Immer ist er gescheitert, Polizisten entdeckten ihn, oder der Lastwagen fuhr nicht nach England. Auch von Paris oder Lille aus hat Mohammed es versucht. Auch da: Polizei. So wie ihm geht es vielen hier: Flucht über Libyen oder Ägypten, dann Italien. Wer Glück hatte, ging gleich weiter nach Frankreich. Nach Calais. Doch hier ist für die meisten Endstation.

Im Hafen von Calais wuchsen in den vergangenen Jahren die Zäune, der Stacheldraht wurde länger. Die Briten wollen nun sogar eine Mauer entlang der Zufahrtsstraße zu Calais bauen lassen. Viele Migranten erzählen, dass eine Flucht nach England immer riskanter wird. Mehrere Dutzend Menschen starben bei Unfällen.

England war für Menschen wie Mohammed ein Versprechen: Man finde leicht Arbeit, auch ohne legale Papiere. Er spricht die Sprache, anders als in Deutschland oder Frankreich. Mit seiner schwarzen Haut ist er kein Fremder, wie in Griechenland oder Ungarn. Manche aus Afghanistan, Somalia oder Sudan haben Freunde oder Verwandte in England. Und sie haben Schläge oder Tritte von Polizisten bekommen in Ländern wie Italien oder Frankreich. England verspricht ein besseres Leben.

Doch das Versprechen verblasst. Die britische Regierung hat 200 minderjährige Flüchtlinge aus Calais aufgenommen, die Verwandte in England haben. Mehr nicht. Mehr als 70 Millionen Euro hat Großbritannien den Franzosen für den Grenzschutz gezahlt. Das Königreich hat dichtgemacht. Bald will es nicht einmal mehr Teil der EU sein.

Helfer wie Michael McHugh kritisieren, dass die Behörden Migranten viel zu wenig informiert hätten. „Gucken Sie sich um: Wo sind hier französische Beamte?“ Und er sagt: „Das hier sind nicht nur Flüchtlinge, viele sind auch noch Kinder.“

Freiwillige wie er haben Tausende Flugblätter ausgedruckt und verteilt. Auch dort Informationen, was passieren soll: Montag 60 Busse für 3000 Flüchtlinge, Dienstag 45 für 2500, Mittwoch 40 Busse für 2000. „Wir machen hier Arbeit, die eigentlich der Staat machen muss.“ So sieht McHugh das.

Barbara Jurkiewicz sieht das anders, sie arbeitet für eine der Organisationen, die vom Staat für die Hilfe im Camp bezahlt werden. Die Behörden hätten diese Räumung gut geplant, und das schon seit Wochen.

Aber bringt die Räumung die Lösung? Viele Flüchtlinge sagen, sie wollen es in Frankreich probieren. Manche haben Angst, dass sie nach Italien zurückgeschickt werden, wo ihre Fingerabdrücke gespeichert sind. Im Camp gibt es Gerüchte, dass Busse Migranten auch bis nach Rumänien transportieren.

„Die Regierung glaubt, dass mit der Zerstörung des Camps auch das Flüchtlingsproblem aus der Welt geschafft wird“, sagt François Guennoc, Vizepräsident des Vereins „Herberge der Migranten“. Dies sei ein Irrglaube. Denn das Gros der Leute werde zurückkommen. „Außerdem gibt es weiter Neuankömmlinge, etwa 30 Menschen pro Tag.“

Manche Flüchtlinge erzählen, dass sie für ein paar Tage abtauchen wollen, in der Stadt, im Wald. Und dann wollen sie einfach wiederkommen. Oder es auf anderen Wegen nach England probieren. Der Nachbar Belgien rüstet schon mit 120 Polizisten die Grenze zu Frankreich auf, überprüft Lastwagen und Fähren.

Ibrahim ist 29 Jahre alt und hat die vergangenen fünf Monate im „Dschungel“ gelebt. Hoffnung hat er nicht mehr viel. Dafür viel Wut. „Hier sind Kinder, wir sind Menschen. Aber niemand in Europa will uns helfen.“

Ibrahim kommt auch aus dem Sudan, hat schon in Deutschland und Italien gelebt. Aber nirgends bekam er einen Aufenthaltsstatus, sagt er. Er wolle nicht in Frankreich leben, er wolle auch nicht nach England. „Ich bleibe hier, im Dschungel.“