Braunschweig. Klaus Ziehe von der Staatsanwaltschaft Braunschweig erklärt im Interview die Mammutaufgabe, den VW-Abgas-Skandal strafrechtlich aufzuklären.

null

Rund ein Jahr nach Bekanntwerden des VW-Abgas-Skandals ist die Suche nach den Verantwortlichen für die Software-Manipulationen noch längst nicht abgeschlossen. Unter anderem ermittelt die Staatsanwaltschaft Braunschweig in dem Fall. Wie viele Beschuldigte es gibt, welche Strafen drohen und wie die Ermittlungsarbeit funktioniert, erläutert Klaus Ziehe, Sprecher der Staatsanwaltschaft Braunschweig, im Gespräch mit Andreas Schweiger.

Herr Ziehe, in wie vielen Verfahren ermittelt die Staatsanwaltschaft?

„Es gibt keinerlei Einfluss von außen. Es geht nur um die objektive Ermittlungsführung.
„Es gibt keinerlei Einfluss von außen. Es geht nur um die objektive Ermittlungsführung. © Klaus Ziehe, Sprecher der Staatsanwaltschaft Braunschweig

Wir führen vier Ermittlungsverfahren mit insgesamt 30 Beschuldigten. Im ersten Verfahren geht es um die Abgas-Manipulationen beim Dieselmotor. 21 Mitarbeiter des Volkswagen-Konzerns sind beschuldigt. Der Hauptvorwurf dort lautet Betrug und unlauterer Wettbewerb. Im zweiten Fall geht es um etwaig unzutreffende Angaben zum CO2-Ausstoß von VW-Fahrzeugen. In diesem Fall mit sechs Beschuldigten gehen wir insbesondere dem Verdacht der Steuerhinterziehung nach, weil sich ja die KFZ-Steuer auch am CO2-Ausstoß bemisst.

Im dritten Fall lautet der Vorwurf Marktmanipulation. Wir prüfen, ob VW die Aktionäre zu spät über die Abgas-Manipulationen informiert hat. In diesem Fall gibt es zwei Beschuldigte, einer von ihnen ist der frühere VW-Vorstandsvorsitzende Martin Winterkorn.

Und der zweite Beschuldigte ist Herbert Diess, Vorstandschef der Marke VW.

Das sagen Sie. Wir äußern uns zu diesem Beschuldigten nicht, weil es sich nach unserer Betrachtung nicht um eine Person der Zeitgeschichte handelt.

Worum geht es im vierten Fall?

Ein VW-Mitarbeiter wird verdächtigt, Daten beseitigt und andere Mitarbeiter aufgefordert zu haben, ebenfalls Daten zu beseitigen. Erwähnen möchte ich noch ein Bußgeldverfahren, in dem nicht gegen Personen, sondern gegen Volkswagen selbst etwa wegen einer möglichen Verletzung von Aufsichtspflichten in Zusammenhang mit den Abgas-Manipulationen ermittelt wird.

Welche Strafen drohen in den einzelnen Fällen?

Die Strafen für Betrug, Marktmanipulation, Urkundenunterdrückung und Steuerhinterziehung reichen im Grundtatbestand von einer Geldstrafe bis hin zu fünf Jahren Freiheitsentzug pro Tat. Beim unlauteren Wettbewerb bewegt sich das mögliche Strafmaß zwischen einer Geldstrafe und zwei Jahren Freiheitsentzug.

Welche Strafe droht VW, wird die Verletzung von Pflichten festgestellt?

Dabei würde es sich um eine Ordnungswidrigkeit handeln, die mit einem Bußgeld geahndet würde. Es könnte neben der eigentlichen Ahndung auch der durch die etwaige Verletzung von Pflichten erwirtschaftete Gewinn abgeschöpft werden. Bei einer der in Betracht kommenden Pflichtverletzungen liegt die Obergrenze bei 10 Millionen Euro. Diese Grenze kann nach dem Gesetz aber überstiegen werden, wenn der durch die Ordnungswidrigkeit erzielte Gewinn höher ist.

Wie wahrscheinlich ist es, dass VW-Mitarbeiter ins Gefängnis müssen?

Das wäre eine Entscheidung des Gerichts, sollten Anklagen erhoben werden. Die Höhe einer eventuellen Sanktion hinge dann vom Gewicht der Strafvorwürfe und dem Maß der individuellen Schuld ab. Eine Einschätzung zu diesem Zeitpunkt ist nicht möglich, wir sind noch mitten in den Ermittlungen. Nach deren Abschluss müssen wir quasi einen großen Strich ziehen und prüfen, ob die Beweise und Indizien nach unserer Einschätzung für eine Verurteilung vor Gericht ausreichen.

Wie viele Mitarbeiter wussten nach Ihrer Einschätzung von dem Abgas-Betrug?

Es waren jedenfalls möglicherweise mehr als „eine Handvoll“ , wie die Zahl der derzeit 21 Beschuldigten im Dieselverfahren zeigt. Diese Zahl könnte sich im Laufe der weiteren Ermittlungen noch ändern.

Sind im Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Marktmanipulation außer den beiden bisher bekannten Vorstands-Mitgliedern weitere Vorstände von Volkswagen beschuldigt?

Nein, bislang liegen in den anderen Ermittlungsverfahren keine zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkte gegen Mitglieder des VW-Vorstands vor.

Aus welchen Hierarchieebenen bei VW kommen die Beschuldigten?

Aus verschiedenen, mehr möchte ich nicht sagen.

Wurden Verfahren schon eingestellt?

Nein, bisher nicht. Die Zahl der Beschuldigten ist bisher nur gestiegen.

Haben Sie Hinweise, dass die VW-Tochter Audi und der Zulieferer Bosch aktiv am Abgas-Skandal beteiligt sind?

Wir kümmern uns hier in Braunschweig nur um die bei VW entwickelten Motoren, insbesondere den EA 189. Für diesen Bereich fehlt bislang ein Anfangsverdacht, der Voraussetzung ist, um gegen Mitarbeiter anderer Unternehmen ermitteln zu können. Die Interpretationen der Medien sind dabei für uns irrelevant. Wir sind eine Ermittlungsbehörde, keine Spekulationsbehörde. Es geht nicht um ein „muss gewusst haben“, sondern um ein „hat gewusst“.

Wie bewerten Sie den Vorwurf, dass VW schuld an Todesfällen infolge der erhöhten Schadstoffbelastung ist?

Wir beschäftigen uns mit allen strafrechtlichen Aspekten der zu überprüfenden Handlungen. In der von Ihnen angesprochenen Problematik wird es unter anderem darauf ankommen, ob sich ein Ursachenzusammenhang zwischen etwaigen Todesfällen und dem erhöhten Schadstoffausstoß von VW-Modellen belegen lässt.

Wie wahrscheinlich sind weitere Ermittlungsverfahren gegen VW-Mitarbeiter wegen neuer Aspekte im Abgas-Skandal?

Möglich ist vieles, im Moment sieht es aber nicht danach aus. Ich habe den Eindruck, dass alle strafrechtlich relevanten Aspekte mit den jetzigen Ermittlungsverfahren erfasst sind.

Wann ist mit einer Anklage beziehungsweise einer Einstellung der Verfahren zu rechnen?

Ein konkreter Zeitpunkt kann nicht genannt werden. In allen Verfahren ist noch einiges an Ermittlungsarbeit zu leisten. Das liegt unter anderem daran, dass die von uns erlangten Dateien und sonstigen Quellen letztendlich in Bezug auf alle Verfahren ausgewertet werden müssen. Solange die Auswertung nicht beendet, sämtliche Zeugen gehört worden sind und alle Beschuldigten Gelegenheit zu rechtlichem Gehör hatten, wird es keinen Ermittlungsabschluss geben können. Entscheidungen in diesem Jahr sind danach sehr unwahrscheinlich.

Wie hat die Staatsanwaltschaft Braunschweig vom Abgas-Betrug erfahren?

Aufgrund der Berichterstattung in den Medien im September 2015 sind bei uns sehr schnell Strafanzeigen eingegangen – unter anderem gegen den damaligen VW-Vorstandsvorsitzenden Martin Winterkorn. Wir waren bereits aufgrund der Medieninformationen in der gesetzlichen Pflicht, den Anfangsverdacht von Straftaten zu prüfen.

Was hat die Staatsanwaltschaft als Erstes unternommen?

Wir haben Quellen ausgewertet und Informationen gesammelt, zum Beispiel aus ersten Ermittlungen. Zudem haben wir geprüft, ob es einen Anfangsverdacht von Straftaten gegen Unbekannt oder gegen konkrete Personen gibt. Das Ergebnis war, dass Ermittlungen der Staatsanwaltschaft wegen des Anfangsverdachts des Betrugs und des unlauteren Wettbewerbs gegen bestimmte Personen als Beschuldigte aufzunehmen sind.

Warum haben die ersten Durchsuchungen bei Volkswagen und Beschuldigten erst im Oktober 2015 stattgefunden?

Das „erst“ gefällt mir nicht, denn wir haben nach meiner Überzeugung sehr schnell gehandelt. Zunächst musste geprüft werden, ob es für Durchsuchungen Sinn und Anlass gibt und was genau gesucht werden soll, um dann den entsprechenden Antrag beim Amtsgericht Braunschweig zu stellen. Allein die Prüfung des Antrags bei uns und bei Gericht nimmt mehr als einen Tag in Anspruch. Dazu mussten wir genau wissen, wohin wir gehen und wo wir suchen müssen. Das ist bei einem so großen Konzern wie Volkswagen nicht von heute auf morgen festzustellen. Hinzu kamen noch Räumlichkeiten von Privatpersonen, die zur gleichen Zeit durchsucht werden sollten. Ich betone daher, dass das Vorgehen der Staatsanwaltschaft im Oktober vergangenen Jahres keineswegs langsam war – im Gegenteil.

Gab es danach weitere Razzien?

Ja, wir haben weitere Durchsuchungen durchgeführt. Das war beispielsweise dann der Fall, wenn es neue Beschuldigte gab und deren Wohnungen zur Auffindung von Beweismaterial in Betracht kamen.

Wann gab es zuletzt neue Beschuldigte?

Nach meiner Erinnerung vor etwa einem Vierteljahr.

Wie sieht Ihre Ermittlungsarbeit konkret aus?

Vielfältig. Hauptsächlich vernehmen wir Zeugen und Beschuldigte, und wir werten die Daten aus, die wir bei den Durchsuchungen gesichert haben. Dabei handelt es sich um mehrere Terabyte.

Wie verlaufen die Gespräche mit den Beschuldigten und den Zeugen?

Es gibt bei einigen eine hohe Kommunikationsbereitschaft. Wir erkennen keine durchgehende Mauer des Schweigens. Aus den einzelnen Vernehmungen ergeben sich immer wieder neue Ermittlungsansätze. Bislang haben wir Dutzende von Zeugen und einige Beschuldigte vernommen. Ihre Aussagen helfen uns, die Vorgänge bei Volkswagen mehr und mehr nachzuvollziehen. Wegen der Bedeutung der Fälle führen meine sachbearbeitenden Kollegen sehr viele Vernehmungen persönlich durch. Es ist in anderen Verfahren dagegen durchaus üblich, die Vernehmungen in erster Linie von der Polizei vornehmen zu lassen.

Inwieweit fließen die Erkenntnisse der VW-internen Ermittlungen der US-Kanzlei Jones Day in Ihre Arbeit ein?

Die Staatsanwaltschaft hat keinen unmittelbaren Zugriff auf die Ergebnisse der VW-internen Untersuchungen. Jones Day ist von VW mandatiert. Einen direkten Zugriff benötigt die Staatsanwaltschaft aber auch nicht, weil sie eigene unabhängige Ermittlungen führt und jeden Zeugen selbst vernehmen möchte und muss. Natürlich haben wir Kontakt zu Volkswagen, etwa zur Rechtsabteilung. Es gibt aber kein Arbeiten Hand in Hand. Um es klar zu sagen: Die Volkswagen AG und die Staatsanwaltschaft Braunschweig haben letztendlich unterschiedliche Interessen. Dort sind es vorrangig wirtschaftliche Aspekte und der daraus begründete Wunsch nach baldmöglicher Konsolidierung und Befriedung mit allen Beteiligten. Bei uns geht es allein um die Aufklärung und Ahndung etwaiger Straftaten.

Was sagen Sie zu dem Vorwurf, die Staatsanwaltschaft in Braunschweig lasse gegenüber VW eine gewisse Milde walten?

Diese Anwürfe höre ich immer mal wieder, und sie bleiben auch bei Wiederholung völliger Unsinn. Ich denke, wir haben vor zehn Jahren bei der ersten „VW-Affäre“ bereits das Gegenteil unter Beweis gestellt. Unser gesetzlicher Ermittlungsauftrag erlaubt es nicht, Rücksicht zu nehmen. Als Privatperson mag ich es bedauerlich finden, wenn unbeteiligte Dritte aufgrund von Fehlhandlungen im VW-Konzern mit allen jetzigen negativen finanziellen Folgen die Leidtragenden der Abgas-Manipulationen wären. Das darf und wird unsere berufliche Arbeit aber nicht beeinflussen. Wir können das sehr gut trennen.

Wird versucht, Einfluss auf Ihre Ermittlungen zu nehmen?

Nein, weder von Volkswagen noch von staatlichen Stellen oder der Politik. Es gibt keinerlei Einfluss von außen, die Ermittlungen irgendwohin zu lenken. Es steht allein die objektive Ermittlungsführung im Mittelpunkt. Unser gesetzlicher Auftrag ist, das Vorliegen von Straftaten zu prüfen und bei den Beschuldigten nach be- und entlastenden Faktoren zu suchen. Dem kommen wir nach – ohne Wenn und Aber und ohne irgendeine Laufleine.

Reichen Ihre personellen Ressourcen aus?

Die Ermittlungen sind für uns eine Mammutaufgabe, das kann ich nicht anders sagen. Bei uns arbeiten etwa zehn Staatsanwälte ganz oder mit Teilen ihrer Arbeitskraft an den VW-Fällen. Das entspricht etwa einem Sechstel aller Staatsanwälte in Braunschweig. Hinzu kommen bis zu 20 Ermittler beim Landeskriminalamt.