Osterode am Harz. Seit 30 Jahren können sich Frauen in Not an den Verein „Frauen für Frauen“ wenden. Im Interview erklärt Karin Agsten, warum die Arbeit so wichtig ist.

„Ich finde es toll, dass es unseren Verein 30 Jahre gibt. Das ist ja schon eine Strecke. Und was sich alles daraus entwickelt hat, das rührt mich schon sehr“, so Karin Agsten ganz emotional. Die 1. Vorsitzende gehört zu den Gründungsmitgliedern des Osteroder Vereins Frauen für Frauen, der am 8. März – dem internationalen Frauentag – seinen 30. Geburtstag feiert. Im Interview mit dem Harz Kurier spricht Agsten über ihren Verein und dessen Arbeit gegen Gewalt an Frauen und berichtet von der Entwicklung des Vereins Frauen für Frauen, dem Schutz-, Beratungs- und Informationszentrum mit Frauennotruf, Frauenhaus Osterode und Kinderhaus Harz.

Frau Agsten, den Verein kann man ja auch als Ihr Lebenswerk bezeichnen. Wie alt waren Sie, als Sie hier mit der Vereinsarbeit angefangen haben?

Ich war 34, und schon davor in dieser Richtung aktiv – hatte an der Fachhochschule Sozialwesen studiert und Kontakte zu Frauengruppen sowie zur Friedensbewegung. Damals bin ich nach Clausthal-Zellerfeld gezogen – aus Braunschweig in die Kleinstadt. Und ich dachte, oh Gott, so viele Männer hier, du musst irgendwas mit Frauen machen. Ich habe mich dann an die Frauenbeauftragte gewandt. Das war zu der Zeit Britta Schweigel. Und die hatte einen Stammtisch für Frauen. Sie erzählte, sie wolle einen Frauennotruf gründen und suche Frauen, die dort die Beratungsarbeit machen.

Der Frauennotruf war also das erste Projekt. Wie ist daraus der Verein entstanden?

Ja, es ist schon beachtlich, dass wir aus diesem Projekt sogar zu einem mittelständischen Unternehmen geworden sind – mit ehemaliger Geschäftsführung und mittlerweile etwa 50 Angestellten. Ich bin noch die Einzige, die „nur“ ehrenamtlich tätig ist. Der Frauennotruf lief unter der Regie des Landkreises, gehört aber zu den freiwilligen Aufgaben des Kreises. Als dann die Finanzierung nicht mehr gesichert war, wollten wir, dass es weitergeht und gründeten 1994 den Verein Frauen für Frauen. Der Landkreis unterstützt den Frauennotruf aber weiterhin finanziell. Mit dem Verein kam es dann auch zur Gründung des Frauenhauses. Es hat Platz für vier Frauen und deren Kinder – ist also das Kleinste in Niedersachsen. Hier bieten wir Hilfe zur Selbsthilfe. Wir möchten, dass sie möglichst schnell selbstständig werden. Und das können sie, denn sie wurden ja vorher meist kleingehalten, sind Opfer von Gewalt in jeglicher Form. Viele Frauen kommen mit nichts, sind mittellos. Wir helfen ihnen bei der Krisenbewältigung, Anträgen, im Umgang mit Behörden und zeigen Betroffenen einen Weg aus der Gewalt, damit sie keine Opfer mehr sind.

Wie ging es dann weiter? Der Verein bietet heute ja noch weit mehr.

Inzwischen hat Frauen für Frauen zwei große Geschäftsbereiche. Der eine ist das Kinder- und Mädchenhaus Harz mit insgesamt vier Wohngruppen. Dann gibt es den ursprünglichen Geschäftsbereich „Häusliche Gewalt“ mit Frauenhaus, Frauennotruf und der BISS-Stelle. Wir bieten also nicht nur Frauen, sondern auch Mädchen und Jugendlichen unabhängig vom Geschlecht, Beratung, Begleitung und Unterstützung an, wenn sie geschlagen, bedroht oder sexuell missbraucht werden.

Der Sitz des Vereins Frauen für Frauen in Osterode, Am Schilde 29. 
Der Sitz des Vereins Frauen für Frauen in Osterode, Am Schilde 29.  © FMN | Kathrin Franke

Was ist die BISS-Stelle?

Das ist die Beratungs- und Interventionsstelle gegen häusliche Gewalt. Wenn es zu einem Polizeieinsatz wegen häuslicher Gewalt kommt, informiert uns die Polizei. Wir nehmen dann Kontakt zu der betroffenen Frau auf und bieten Hilfe an. Sie entscheidet selbst, ob sie unsere Unterstützung annehmen möchte. Wichtig ist, dass sie weiß, dass sie nicht allein ist und Hilfe möglich ist.

Wie kam es zur Gründung des Kinder- und Mädchenhauses Harz?

Der Landkreis hat angefragt, ob wir auch Mädchen aufnehmen könnten, die in ihren Familien vernachlässigt werden oder die Opfer von Missbrauch sind. So ist die Entwicklung ins Rollen gekommen. Inzwischen nehmen wir aber nicht nur Mädchen, sondern auch Jungen auf. Denn es kann sich ja auch um Geschwister handeln, die betroffen sind. Aber auch Jungs können Opfer von Missbrauch werden. Im Kinderhaus „Stine“ (Stärke, Toben, Interesse, Neugierde, Entdecken) bieten wir Mädchen und Jungs im Alter von sechs bis zwölf Jahren ein vorübergehendes oder dauerhaftes Zuhause.

Wer sind die „Schatz-Kidz“, die „Wilden Hühner“ und die „Wilde 18“?

„Schatz-Kidz“ ist eine intensivpädagogische Wohngemeinschaft, in der acht Mädchen und Jungen – auch Geschwister – von zwölf bis 18 Jahren einen sicheren Ort zum Leben finden. Die Jugendlichen sind zum Beispiel durch Gewalt in der Familie oder sexuelle Übergriffe schwer traumatisiert. Die Wohngruppe „Wilde Hühner“, die zehn Plätze hat, gibt Mädchen von zwölf bis 18 Jahren einen längerfristigen sicheren Lebensraum. Die „Wilde 18“ ist eine Verselbstständigungs-WG, in der sechs Mädchen beziehungsweise junge Frauen im Alter zwischen 16 und 21 Jahren Raum haben, ihre Alltagsfähigkeiten auszuprobieren und zu erweitern, sowie bei der Berufsfindung und der Schulbildung unterstützt werden. Aber auch mit der Volljährigkeit werden die jungen Leute bei Bedarf nicht sich selbst überlassen. Hier haben wir mit dem Careleaver Haus eine ambulante Betreuungsmöglichkeit geschaffen. Unsere Fachkräfte können den jungen Erwachsenen bis zum Alter von 27 Jahren Halt und Unterstützung bieten, zum Beispiel mit Finanzen, Haushalt, beruflicher Entwicklung, Partnerschaft und einer gesunden Lebensweise.

Was hat sich im Lauf der 30 Jahre verändert bei Frauen für Frauen?

Unsere Arbeit ist nach wie vor sehr wichtig. Ich habe den Eindruck, dass die Gleichberechtigung der Frau einen Schritt rückwärtsgeht, zum Beispiel auch durch rechte Tendenzen. Die Gender-Pay-Gap ist auch ein Thema. Denn die Entgeltgleichheit ist noch nicht erreicht. Armut ist weiblich – etwa durch prekäre Arbeitsverhältnisse und Teilzeitarbeit. Ich denke, Männer können sich meist besser abgrenzen. Frauen fühlen sich in vielen Dingen mehr verantwortlich. Und auch viele Jungs werden noch „wilder“ erzogen als Mädchen. Ich sage immer, „wehret den Anfängen“. Frauen müssen häufiger „Nein“ sagen. Auch Gewalt an Frauen hat durch die Corona-Pandemie nochmals zugenommen. Die meisten Frauen halten Gewalt in der Beziehung viel zu lange aus. Ich bin stolz, dass wir Kindern ein gutes Zuhause und gute Betreuung bieten können. Sie machen Schulabschlüsse und haben durch uns einen besseren Start ins Leben. Es gibt auch ehemalige betreute Mädchen, die heute beim Verein arbeiten.

Unsere Arbeit ist nach wie vor sehr wichtig. Ich habe den Eindruck, dass die Gleichberechtigung der Frau einen Schritt rückwärtsgeht, zum Beispiel auch durch rechte Tendenzen.
Karin Agsten - 1. Vorsitzende von „Frauen für Frauen“

Welche Aktionen gibt es bei Frauen für Frauen?

Anfangs hatten wir zum Beispiel noch ein Veranstaltungsprogramm mit Kursen, das Frauenfrühstück und an den Ferienreisen konnten auch Kinder, die wir nicht bei uns betreuen, teilnehmen. Das können wir aber leider nicht mehr leisten. Wir veranstalten Lesungen, unterstützen mit Aktionen auch die Tafel Osterode. Wir machen Gremien- und Vernetzungsarbeit, wie zum Beispiel beim Tisch gegen Gewalt. Und neben der regelmäßigen Öffentlichkeitsarbeit wird es in diesem Jahr zum zweiten Mal ein Streetfestival gegen häusliche Gewalt geben.

„Ich finde es toll, dass es unseren Verein 30 Jahre gibt. Das ist ja schon eine Strecke. Und was sich alles daraus entwickelt hat, das rührt mich schon sehr“, so Karin Agsten ganz emotional.
„Ich finde es toll, dass es unseren Verein 30 Jahre gibt. Das ist ja schon eine Strecke. Und was sich alles daraus entwickelt hat, das rührt mich schon sehr“, so Karin Agsten ganz emotional. © FMN | Kathrin Franke

Was wünschen Sie sich für Frauen für Frauen und die Zukunft?

Auf jeden Fall das Weiterbestehen – mit den derzeitigen Möglichkeiten. Ich erlebe uns als sehr flexibel. Unsere Mitarbeiterinnen haben tolle Ideen und gehen die Dinge positiv an. Ich wünsche mir, dass das so bleibt. Auch der gute Zusammenhalt. Und wir feiern Feste zusammen. Es gibt Fortbildungen und Supervisionen, eine gute Psychologiehygiene. Jede Mitarbeiterin wird da abgeholt, wo sie steht. Es wäre schön, wenn wir eine wirkliche Gleichberechtigung in der Gesellschaft erreichen, eine gleiche Bezahlung und auch das Gesundheitswesen gerechter wird, denn Frauenkörper machen andere Entwicklungen als die der Männer durch. Und Medikamente werden zum Beispiel überwiegend an Männern getestet. Ein großer Wunsch von mir ist, dass das Umfeld von Frauen, die Gewalt in der Beziehung erleben, aufmerksam ist, auf die Frau zugeht, sie anspricht und auch auf den Frauennotruf hinweist oder selbst anruft. Wir helfen anonym.

Kontakt unter: Frauen für Frauen Schutz, Beratungs- und Informationszentrum e.V., Am Schilde 29, Osterode, Telefon 05522/ 4668 (Montag bis Freitag 8 bis 13 Uhr)

Frauennotruf: 05522/920770, info@frauen-notruf-osterode.de und SMS 0151/ 26293967 (über die Signal App).

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