Nordhausen. Am Theater Nordhausen wird derzeit die Ballettchoreographie „Die Seele erzählt nicht, sie tanzt“ aufgeführt.

Seit einem halben Jahr ist Ivan Alboresi Ballettdirektor am Theater Nordhausen. Mit seiner Amtsübernahme fand ein Zeitenwechsel statt. Dies macht das aktuelle Programm deutlich. Das Stück „Die Seele erzählt nicht, sie tanzt“ überzeugt auch das kritische Publikum mit einer wahren Flut an beeindruckenden Bildern.

Dabei war das Ziel hochgesteckt. Unter dem Titel „Die Seele erzählt nicht, sie tanzt“ wurde ein Verzicht auf eine übliche Dramaturgie angekündigt. Es gehe nicht darum, mit dem Mittel des Balletts eine Geschichte zu erzählen, erklärte Alboresi im Vorfeld. Stattdessen sollen die Bewegungen der Tänzerinnen und Tänzer das Publikum mitnehmen auf eine Reise. Das Publikum sollte durch das Wecken der Imagination begeistert werden.

Das Experiment ist gelungen

Zur Verstärkung hatte Ivan Alboresi sich den Choreographen Pedro Lozano Gómez geholt. Der Spanier arbeitet derzeit in Paris. Das Experiment ist gelungen. Das Ergebnis ist ein zweiteiliger Abend mit zwei doch unterschiedlichen Inszenierungen.

Es beginnt mit einem Menschenknäuel vor einer Leinwand auf einer weißen Bühne. Der Beamer wirft Bilder von Blasen auf die Leinwand. Zu den sphärischen Elektro-Klängen des Isländers Ólafur Arnalds kommt Bewegung in die Körper. Im Schlussbild des ersten Teils stehen zwei Tänzer im Gegenlicht vor der Leinwand. Jenseits der Trennwand bewegen sich fünf Gestalten. Die Verhältnisse zueinander bleiben unklar.

Dazwischen hat Gómez einen Bilderbogen gespannt, der die Vorstellungskraft des Publikums herausfordert. Schnelle Passagen wechseln sich mit kontemplativen Momenten ab. Gómez Anspruch ist es, die Instabilität des Lebens, die ständigen Veränderungen zu zeigen. Dazu zeigt er einzelne Szenen, die Verbindungen muss das Publikum selbst herstellen. Es wird zum Teil des Arbeitsprozesses, für jeden Einzelnen entsteht eine individuelle Reise.

Weil es keine festgeschriebenen Rollen und Identifikationsmöglichkeiten gibt, ist diese Choreographie vor allem eine Leistung des Ensembles. Das Individuum trifft immer wieder auf die Gruppe. Einzelne verbinden sich zu Ketten, verheddern und entwirren sich. Angesichts einiger Figuren und Bilder, die sich wiederholen, zeigt sich hier Kürzungspotenzial. Gómez testet die Aufnahmefähigkeit des Publikums. Doch das bedankt sich schon zur Pause mit donnerndem Applaus.

Der Verzicht auf erzählerische Momente und das Bauen auf die Imagination bilden auch in Alboresis Choreographie die Grundlage. Doch während Gómez ein „State of Art“ in Sachen Modern Dance liefert, geht Nordhausens Ballettchef einen Schritt weiter. Seine Inszenierung wagt die Kombination mit dem klassischen Ballett. Pas de deux und aufstrebenden Hebefiguren kontrastieren Gómez Bodenständigkeit.

Der reinen Tanzfläche setzt Ronald Winter ein durchkomponiertes Bühnenbild entgegen. Eine Wolke mit Himmelspforte im Barock-Dekor krönt das Ganze. Das Senken und Heben einzelner Bühnenelemente während der Vorstellung ist ein Gestaltungsmittel.

Die Tänzerinnen tragen Kostüme, die an die ausladenden Röcke des 18. Jahrhunderts erinnern, und auch in der Musik wagt Alboresi die Symbiose. Er kombiniert die klaren Klänge des Avantgardisten Alva Noto mit den Werken von Johann Paul von Westhoff. Der Minimalismus des fast vergessenen Barockkomponisten scheint auch nach 300 Jahren schon erstaunlich aktuell.

Losgelöste Ästhetik

Das Publikum ist gar nicht versucht, Geschichten in das Bühnengeschehen hineinzuinterpretieren. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als die reine Bewegung, um losgelöste Ästhetik.

Fazit: Der mit Amtsantritt Alboresis in der Ballettcompagnie Nordhausen erfolgte Zeitenwechsel ist eher ein Quantensprung. tok