Göttingen. Im Interview sprach der Tänzer Tadashi Endo über den Wert des Tanzens und seine nächsten Projekte.

Wenn es die „Hidden Champions“ auch im Kulturbereich gibt, dann gehört Tadashi Endo bestimmt dazu. Seinen 70. Geburtstag feiert der weltbekannte Tänzer heute mit einem Solo-Programm im Deutschen Theater. Im Interview mit Thomas Kügler sprach der bekennende Göttinger über die Seele, über den Wert des Tanzens und seine zukünftigen Projekte.

Herr Endo, was erwartet uns in ihrem Programm „Maboroshi“?

Maboroshi ist ein Wort, ein japanisches Schriftzeichen, das sich schwer übersetzen lässt. Es kann Geist, Gespenst, Seele oder auch Stimmung bedeuten. Es ist eine Art Fata Morgana, manchmal sichtbar, aber nie greifbar.

Wie sind Sie zu diesem Thema gekommen?

Ich habe mich schon lange mit dem Thema Seele beschäftigt, denn die Seele ist ein schwieriges Thema. Alle reden darüber und sie existiert, aber wir können sie nicht sichtbar machen. Die Welt ist durch Physik bestimmt, und meist verdeckt der Körper die Seele.

Warum kann man die Seele mit dem Mittel des Tanzes sichtbar machen?

Es liegt an der Abstraktion. Im Tanztheater stehen keine Requisiten auf der Bühne, und der Tänzer muss keine Rolle spielen. Er kann sich ganz von seinem Innersten, von seinen Gefühlen leiten lassen. Das nimmt das Publikum auch so wahr. Es ist ein häufiges Phänomen, dass die Zuschauer im Tanztheater gerührt sind, es aber nicht in Worte fassen können. Es ist fast so, als ob die Seele vom Tänzer zum Publikum übergeht.

Welche Rolle spielt das Unsichtbare in ihrem Schaffen?

Ich bin sehr stark von meinem Lehrer Kazuo Ono beeinflusst, dem ersten Meister des Butoh. Er sagte immer wieder, dass nicht die Technik das Entscheidende sei. Ein Tänzer muss zeigen, was hinter der Realität steckt. Dies hat er immer wieder gefordert und selbst noch im hohen Alter beeindruckend umgesetzt.

Sie sagen, jeder könne Butoh tanzen. Wie begründen Sie diese Aussage?

Butoh wurde nach dem Zweiten Weltkrieg in Japan entwickelt. Kazuo Ono und Tatsumi Hijikata sind damals davon ausgegangen, dass Japaner nicht für klassisches Ballett geeignet sind. Wir haben andere Proportionen, unser Oberkörper ist im Verhältnis zum europäischen Körper größer. Das war damals sicherlich richtig, aber mittlerweile haben wir den Butoh weiterentwickelt und er ist in der ganzen Welt zu Hause.

Gerade auf meinen Reisen nach Südamerika, nach Brasilien, Argentinien und Bolivien treffe ich immer wieder auf junge Menschen, die sich dem Butoh zuwenden, obwohl sie vorher klassischen Tanz gemacht haben. Für die meisten ist es eine Weiterentwicklung ihrer Persönlichkeit. Butoh ist keine japanische Folklore, sondern eine Kunstform für die ganze Welt. Mittlerweile gibt es viele regionale Stile.

Was müsste ich mitbringen?

Du musst wissen, wofür du tanzt. Das ist die Essenz des Butoh, und wenn man das verstanden hat, dann sind alle Voraussetzungen gegeben.

Sie werden jetzt 70 Jahre alt. Wie lange werden Sie noch tanzen?

Ich habe gerade in den letzten zwei Jahren gemerkt, dass mein Körper langsam abbaut. Aber solange die Seele noch lebendig ist, solange werde ich tanzen. Die Technik wird nicht mehr besser, aber der Ausdruck umso stärker. Mein Lehrmeister Kazuo Ono hat noch mit 100 Jahren beeindruckende Choreographien im Rollstuhl dargeboten.

Wenn Sie zurückschauen, was bewerten Sie als Ihren größten Erfolg?

Je älter man wird, desto mehr verschiebt sich die Bedeutung des Wortes Erfolg. Früher war Erfolg für mich, auf die großen und bedeutenden Bühnen eingeladen zu werden.

Heute ist es ein Erfolg, wenn ich zuhause am Fenster sitze und die Natur beobachten kann. Zeit für so etwas zu haben, Zeit für mich zu haben, nicht Getriebener zu sein und unter Druck zu stehen, das ist heute für mich der Erfolg. So wird Erfolg zum Glück.

Was haben Sie sich für diese 2017 vorgenommen?

Ich werde in diesem Jahr noch ein großes Tanzprojekt umsetzen. Dann stehen auch noch mehrere Dreharbeiten an, unter anderem mit Jürgen Vogel. Mit Doris Dörrie plane ich gerade ein weiteres Projekt. Seit dem Film „Kirschblütenfest“ verbindet uns eine tiefe Freundschaft, weil wir ähnliche künstlerische Vorstellungen haben.

Sie sind in der ganzen Welt unterwegs und halten Göttingen seit 46 Jahren die Treue. Warum?

Ich habe hier meine Frau kennengelernt, unsere Söhne sind hier geboren und unser Enkelkind, und hier ist unser Butoh-Zentrum. Es stimmt, ich bin 4 bis 5 Monate im Jahr unterwegs. Aber seit dem Tod meiner Mutter habe ich keine Adresse, keine Anschrift mehr in Japan.

Ich bin immer noch japanischer Staatsbürger, aber Göttingen ist längst meine Heimat.