Osterode. Benedict Wells las beim Literaturherbst im Kornmagazin aus seinem aktuellen Werk „Vom Ende der Einsamkeit“.

Solch einen hochkarätigen Gast hat man bei der Premiere selten: Beim ersten Gastspiel des Göttinger Literaturherbstes in Osterode trug Benedict Wells aus seinem aktuellen Werk „Vom Ende der Einsamkeit“ vor. Benedict Wells gehört zu den Glanzlichtern am deutschen Literatenhimmel. Die Lesung mit Musik im ausverkauften Ratssaal traf den Geschmack des Publikums auf den Punkt.

Schon bei seinem Debüt „Becks letzter Sommer“ wurde Wells von den Kritikern in allerhöchsten Tönen gelobt. Mit seinem neuesten Buch setzt der 32-Jährige diesen Erfolgsweg fort.

Aus der Rückschau erzählt Jules Moreau die Geschichte seiner Familie. Mit zwei älteren Geschwistern wächst er in behüteten Verhältnissen in München auf. Sein französischer Vater arbeitet als Architekt, die deutsche Mutter als Lehrerin. Die Idylle bricht zusammen, als die Eltern bei einem Unfall sterben. Die drei Geschwister müssen in ein Internat, sie entfremden sich zusehends. Letztendlich trennen sich ihre Wege. Erst 35 Jahre später bringt ein Unglück sie wieder zusammen.

Soundtrack zur Geschichte

Zur Lesung in Osterode hat Benedict Wells seinen Freund Jakob Brass mitgebracht. Der Sänger und Gitarrist hat den Soundtrack zu dieser Geschichte zusammengestellt. Mit fünf Songs zur Gitarre ergänzt er die vorgetragenen Worte. Es sind eigene Stücke und Fremdmaterial. Gemeinsam ist allen Liedern das Thema Verlust und Einsamkeit.

Benedict Wells weist gleich zu Anfang darauf hin, dass es diesen Soundtrack auch bei youtube zu sehen gibt.

Vom Tempo des Internets sind Künstler und Publikum an diesem Abend abgeschnitten. Es ist ein freiwilliger Verzicht auf Rasanz und Tricks. Wells und Brass agieren ruhig und konzentriert. Es gehe nicht um Aufmerksamkeitsdefizite, es geht um das, was Menschen in ihrem Innersten bewegt. Er erzählt eine Geschichte von Entwicklungen, die abrupt wenden, von plötzlichen Wendungen, von Gefühlen, die verloren gehen und von Talenten, die nach langer Zeit wieder ans Licht kommen. Der schmächtige Autor in seinem hochgeschlossenen schwarzen Hemd wirkt fragil, zerbrechlich und unsicher.

Reise in das eigene Innere

Er fragt beim Publikum nach, ob der Ton richtig sei, ob das Mikrofon funktioniere. Das Auditorium geht bereitwillig auf das Hilfegesuch ein. Von Anfang an fühlt man sich seelenverwandt. Man ist sofort per „Du“.

Text zur Sologitarre ist keine Neuerung. 35 Jahre zuvor war es die Form, in der Literatur in eingeschworenen Kreisen in Büchereien verabreicht wurde. Es ist auch ein Talent, das wieder zum Vorschein kommt.

Nach Reizüberflutung und Effekthascherei geht für viele die Reise in das eigene Innere. Da sind Gitarrenmusik und Texte die passenden Begleiter. Mit ihrer konzentrierten Darbietung haben Wells und Brass den Trip in die Tiefen der eigenen Seelen in ruhige Bahnen geleitet.

An fünf Stationen machen der Autor, sein Musiker und das Publikum halt. Wenn die Reiseleitung ins Stolpern kommt, ist das kein Problem. Der Vortragende und sein Auditorium haben vor allem Verständnis füreinander. Es entspinnt sich eine Freundschaft auf Zeit.

Benedict Wells wird schon jetzt als Deutschlands John Irving gehandelt. Für dieses Missverständnis hat der Wahl-Berliner selbst gesorgt, als er einst den Mann aus New Hampshire als sein Vorbild nannte. Ähnlich ist beiden die Traurigkeit, die ihren Texten unterliegt. Doch während der Amerikaner wortgewaltig und erfindungsreich sich immer wieder mit skurrilen Einfällen aus diesen Niederungen empor erzählt, bleibt Wells im Tal der Traurigkeit.

Das Leben seiner Protagonisten ist ein langer ruhiger Fluss, in dessen Stromschnellen sie ganz schön ins Rudern kommen.

Verzicht auf Dramatisierung

So ist auch sein Vortrag: ruhig, gemessen und auf das Wesentliche konzentriert. Bewusst verzichtet er auf Dramatisierung. Der Wiener Schmäh der Nebenfigur Tony Brenner ist die einzige Extravaganz an diesem Abend.

Es ist bei weitem nicht die sprachliche Opulenz eines John Irving, Wells gleicht in seiner kargen und reduzierten Sprache eher den Werken Simenons.

Den 120 Besuchern im Osteroder Kornmagazin sind solche Überlegungen an diesem Abend egal. Sie sind mit ihrem neuen Freund Benedict Wells auf eine Reise in ihr Innerstes gegangen, Hand in Hand.