Berlin. Drei Jahre lang saß der Oppositionelle in Lagerhaft. Bei „Maischberger“ spricht eine Menschenrechtlerin von „absoluter Folter“.

Es waren schreckliche Bilder, die Irina Scherbakowa, Mitbegründerin der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial, vor dem inneren Auge heraufbeschwor, als sie über die Haftbedingungen von Alexej Nawalny sprach. In den vergangenen drei Jahren hatte der bekannte Kremlkritiker fast 300 Tage in einer sogenannten Strafbaracke verbringen müssen.

Eine enge Zelle mit nur einem winzigen Fenster. Entweder unglaublich heiß oder sehr kalt, Boden und Wände immer feucht. Um 5 Uhr morgens sei Nawalny die Matratze weggenommen worden, erzählte Scherbakowa am Dienstagabend bei „Sandra Maischberger“.

Danach sei auch die kleine Schlafpritsche hochgeklappt worden, sodass Nawalny nur noch auf einer kleinen Bank sitzen konnte. Ein Loch im Boden als „Toilette”, kaum Kontakt zur Außenwelt. „Und du hungerst”, führte Scherbakowa aus. Zu trinken habe Nawalny kein kaltes, sondern kochend heißes Wasser bekommen, das er schnell habe austrinken müssen. Es sei „absolut“ Folter gewesen, sagte Scherbakowa und sprach von „stalinistischen Methoden“.

podcast-image

„Da kannst du eigentlich nur sterben“

Seit seiner Verlegung in eine Haftanstalt nördlich des Polarkreises im Dezember 2023 hatte Nawalny außerdem zahlreiche Klagen eingereicht, weil er trotz zweistelliger Minusgrade keine warmen Stiefel bekam oder es in seiner Zelle nicht einmal eine Toilette gab. Am vergangenen Freitag hatte die Verwaltung des Strafgefangenenlagers nun mitgeteilt, dass der 47-Jährige nach einem Hofgang zusammengebrochen und verstorben sei.

Eine genaue Todesursache nannten die Behörden bislang nicht, einen Tag später sprachen sie vom „plötzlichen Todessyndrom”. Die Nachricht löste in vielen Ländern Bestürzung aus, international sprachen Politiker von einem politischen Mord aus Putins Feder.

Irina Scherbakowa ist russische Bürgerrechtlerin.
Irina Scherbakowa ist russische Bürgerrechtlerin. © picture alliance / HMB Media | R4676

Davon ist auch Thomas Roth überzeugt. Für den ehemaligen Leiter des ARD-Studios in Moskau sei der Tod von Nawalny leider keine Überraschung gewesen, wie er Moderatorin Sandra Maischberger erklärte. Nawalnys Martyrium habe sich bereits über mehrere Jahre erstreckt. Über die Haftanstalt nördlich des Polarkreises, den letzten Aufenthaltsort Nawalnys, sagte er: „Da kannst du eigentlich nur noch sterben.“ Genau das sei die Idee Putins gewesen, als er Nawalny an diese „gottverlassene Gegend“ verbannt hatte.

In der Sendung zeigte Moderatorin Sandra Maischberger auch einen Ausschnitt aus Nawalnys Botschaft, die er für den Fall seiner Ermordung hinterlassen hatte. Eine Vorahnung, die nun Gewissheit ist. Darin sagte Nawalny auf Russisch: „Für den Triumph des Bösen braucht es nichts weiter, als dass die Guten untätig bleiben. Also seid nicht passiv.“

Putin „schlägt die Tür ein“

Ein Aufruf, dem kurz nach seiner Ermordung zahlreiche Russinnen und Russen gefolgt waren. Trotz Warnung von Behörden und Verhaftungen legten sie über mehrere Tage Blumen an verschiedenen Gedenkstätten nieder. „Das ist die erste Massenreaktion seit Beginn des Krieges”, zollte Irina Scherbakowa Beifall.

Für sie sei Nawalny der einzige Oppositionelle gewesen, „der wirklich Menschen auf die Straßen bringen konnte”. Das habe nun auch sein Tod geschafft. Ein Erbe, dass seine Frau Julia Nawalnaja nun fortführen möchte.

Zwar könne sie nicht selbst in Russland präsent sein, erklärte Scherbakowa. „Aber einiges kann man natürlich schon bewirken, Signale für die Menschen geben, auch in Russland.” Sie habe vielleicht nicht die Ironie und Leichtigkeit ihres Mannes, aber sie sei eine sehr starke Frau.

Nun dürfe man auf keinen Fall vergessen, dass Nawalny kein Einzelfall sei, mahnte Roth an. Aktuell gebe es in Russland etwa 1000 politische Gefangene. Zum Beispiel die belarussische Aktivistin Maria Kolesnikowa, die seit Monaten verschwunden sei. Um Putin aufzuhalten, sprach sich der Journalist für schärfere Sanktionen aus. Kurzfristig sei seiner Meinung aber auch Waffengewalt nötig, weil Putin nur dadurch aufzuhalten sei. „Wenn man das nicht tut, dann steht er vor der nächsten Haustür”, erklärte Roth. Nur leider sei Putin kein Mensch, der höflich anklopfe. „Der schlägt die Tür ein.”

Russland-Reportagen von Jan Jessen