Fühlen Sie sich einsam? Brauchen Sie öfter mal jemanden zum Reden? Dann kaufen Sie sich ein E-Auto! Ich verspreche es Ihnen: An den Ladesäulen werden Sie immer in Gespräche verwickelt, ob Sie wollen oder nicht. Hier wird über die Zukunft philosophiert – und gestritten! Ich möchte Ihnen über fünf Jahre Erfahrungen mit der Elektromobilität und der Ladeinfrastruktur berichten: über Erfolgserlebnisse, Frust, positive Überraschungen und weit verbreitete Irrtümer.
Ohne Schall auch ohne Schalldämpfer
Genau zehn Jahre ist es her, dass ich an einem Preisausschreiben eines deutschen Autoherstellers teilgenommen habe – den Gasgrill wollte ich gewinnen, zog stattdessen aber das ganz große Los, den Hauptgewinn: ein Wochenende in München mit Hotel, zwei Abendessen und Mietwagen – einem vollelektrischen 1er BMW ActiveE. Den Wagen gab es nicht zu kaufen, es war quasi das Vormodell zum i3 – gleiche Technik nur in Hübsch. Das Gefährt hat mich elektrisiert, infiziert! Diese Beschleunigung! Diese Einfachheit! Diese Lautlosigkeit! Mit einem Mal begriff ich, dass es für Fahrspaß gar keinen „Sound“ braucht – im Gegenteil. Für mich war klar: Benzin und Diesel haben bei mir bald ausgedient. 2018 war es soweit, mit einem gebrauchten VW E-Golf.
Reichweite versus Realität
Wenn ich den Wagen an einer Ladestation angestöpselt habe, sprachen mich regelmäßig Passanten an. Die häufigste Frage war anfangs: „Wie weit kommen Sie denn damit?“ Zugegeben: Der erste kleine Akku mit 24 Kilowattstunden war eine echte Herausforderung. Voller Panik blickte ich dauernd auf die Reichweitenanzeige, die mir viel zu schnell herunter zählte, nicht nur wenn die Heizung eingeschaltet war. Heute sage ich: Vergessen Sie diese Anzeige, ignorieren Sie sie! Sie hat absolut nichts mit der Realität zu tun. Der Computer berechnet die Reichweite nach dem momentanen und bisherigen Stromverbrauch, aber er weiß nicht, ob sie als nächstes bergauf Autobahn oder Landstraße mit Gefälle fahren, ob sie es nachher mollig warm oder kühl wollen. Vertrauen Sie auf ihre Fähigkeit, zur Not „einen Gang herunterschalten“ zu können und dass es Schnellladesäulen gibt.
Fast kostenlos bis zur Küste
Die Anfangszeit war in anderer Hinsicht paradiesisch: Als (Noch-)Pionier traf ich zwar auf nur wenige Ladesäulen, aber fast alle waren damals noch kostenlos. Im Sommer fuhr die ganze Familie mal eben für 3,45 Euro nach Rostock und zurück. Wir hatten viel Zeit, uns darüber zu freuen: bei den Ladepausen. Das ist übrigens die zweithäufigste Frage von Passanten: „Wie lange dauert das denn?“ Ohne E-Auto hätten wir uns vermutlich nicht den Ostfalia-Standort in Suderburg, die Innenstadt von Wismar und die Forschungsstelle der TU-Clausthal in Goslar angeschaut. Es gibt auch eine Wortneuschöpfung aus der Pionierzeit: „Sich die Ladeweile vertreiben.“ Heute lade ich mit meinem Tesla M3 in zehn Minuten, was damals zweimal eine Dreiviertel Stunde brauchte. Die Zeiten ändern sich schnell.
Die Ladesäulen sind wieder frei, aber nicht barrierefrei
Das mit dem kostenlosen Strom hatte aber auch einen Nachteil, je mehr E-Autos auf die Straße kamen: Ladesäulen waren irgendwann dauerbelegt, weil es zu Hause teurer war. Heute hat sich die Situation normalisiert: Sie brauchen kaum Sorgen haben, eine freie Ladesäule zu finden – etwa 90 Prozent aller Ladevorgänge finden wieder zu Hause statt, seitdem kaum noch Strom verschenkt wird. Give-Away-Ladesäulen wie bei Ikea oder Görge in Braunschweig sind dagegen weiter heiß umkämpft (Edit: Görge ersetzt seine Ladestationen gerade gegen kostenpflichtige). Aber wir müssen uns mal über ein ganz anderes Problem unterhalten: Finden Sie mal eine Ladesäule, die Sie mit Anhänger oder Wohnwagen ansteuern können! Ich fordere barrierefreie Stationen!
Der Ladeinfrastruktur fehlt die Struktur
Wir reden immer von Ladeinfrastruktur. Dabei hat das, was sich bisher entwickelt hat, gar keine Struktur! Die Kommunen und Energieversorger haben Ladestationen dorthin gebaut, wo bereits Trafostationen standen, um keine neuen Leitungen legen zu müssen. Mit Bedarf hat das nicht viel zu tun. Schnellladesäulen gehören an Schnellstraßen! In den Städten sollte das Geld, das ein High-Power-Charger kostet, lieber in 30 langsamere Wechselstromstationen ausgegeben werden. Was ist das für eine Verkehrsplanung, wenn Fernreisende auf der Suche nach einer Schnellladestation dazu beitragen, die Innenstadt zu verstopfen? Absurde Beispiele gibt es genug: Googeln Sie doch mal nach der BS-Energy-Schnellladesäule am Eiermarkt in Braunschweig! Sie steht in einer Tiefgarage.
Eine Handvoll Karten wie beim Skat
Wenn Passanten fragen, wie das mit dem Laden funktioniert, dann sage ich gern: „Schauen Sie! Einfach Stecker rein, Ladekarte dranhalten und los gehts.“ Ich verschweige allerdings das Karten-Wirrwarr in meiner Hosentasche. Das ist mir echt peinlich und ein Dorn im Auge! Warum schaffen Energieversorger nicht das, was an Zigarettenautomaten Gang und Gebe ist? Einen EC-Karten-Leser einzubauen? Ab 1. Juli ist das bei neuen Säulen Pflicht. Die Preise machen sich bisher nicht an der Ladesäule fest, sondern welche Karte man verwendet. Nahezu monatlich wechseln sie. Ohne App auf dem Handy (zum Beispiel den „Ladefuchs“) ist kein Überblick zu behalten, welche Karte an welcher Art von Ladesäule in welchem Verbund gerade die günstigste ist. Tesla-Fahrer sind klar im Vorteil mit ihren Superchargern, die das Auto am Stecker erkennen.
Elektrisch fahren kann günstiger sein ...
Dritthäufigste Passantenfrage: „Was kostet das denn?“ Der Strom ist in den vergangenen zwei Jahren ziemlich teuer geworden – Benzin und Diesel aber ja auch. Insofern bin ich mit meinem Wagen im Schnitt immer noch günstiger unterwegs. Nehmen wir mal realistische Werte: Ein VW Golf Diesel verbraucht etwa 5 Liter Diesel auf 100 Kilometer, bei einem Dieselpreis von 1,70 Euro wären das 8,50 Euro für die ganze Strecke. Nehmen wir für den E-Golf mal einen Verbrauch von 17 Kilowattstunden auf 100 an, dann kostet uns dieselbe Strecke 5,95 Euro, wenn der Fahrer zuhause für 0,35 Euro pro Kilowattstunde laden kann. Besitzer von Photovoltaikanlagen können sich freuen: Sie laden häufig kostenlos. Sicher wird jetzt jemand von Ihnen aufspringen und einwerfen: „Mein Diesel verbraucht aber nur 4,5 Liter!“ Dann können Sie mir dies wirklich glauben: Ich habe meinen E-Golf oft auch mit nur 12 kWh durch die Gegend bewegt. Es funktioniert.
… muss es aber nicht immer und überall
Zugegeben, die Rechnung sieht anders aus, wenn man auf öffentliche Ladesäulen angewiesen ist, zum Beispiel fern der Heimat oder als Mieter ohne eigenen Stellplatz mit Wallbox. Strom kostet dann zurzeit ab 0,45 Euro beim langsamen Wechselstromladen (AC), fürs schnelle Gleichstromladen (DC) aber auch schon mal 0,59 Euro. Die 100 Kilometer werden dann fast genauso teuer wie der Diesel beziehungsweise an der Schnellladestation sogar teurer. Oh Schreck!
Auf lange Sicht sparsamer
Na und? Denn es hilft nichts, nur auf die momentanen Energiepreise zu schauen. Experten sprechen von den Total Costs of Ownership – die zählen. Das heißt: Wie sieht die Differenz in Ihrem Portemonnaie von Erwerb bis Verkauf/Verschrottung aus? Also die Langzeitkosten? E-Autos haben zwar nicht selten einen höheren Anschaffungspreis, aber die Besitzer profitieren neben günstigeren Energiepreisen von Fördergeldern, Treibhausgas-Prämie, zehn Jahre Steuerbefreiung, viel geringeren Wartungs- und Verschleißkosten, freiem Parken in manchen Städten (Edit: Seit Anfang des Jahres in Braunschweig nicht mehr, aber in Hannover), derzeit auch von sehr viel geringeren Wertverlusten – noch vor wenigen Wochen gingen sogar zweijährige E-Autos zum einstigen Anschaffungspreis an Autohändler in Dänemark und den Niederlanden.
Der ADAC kam Mitte 2020 zu dem Schluss: „Rechnet man alle Kosten eines Autos zusammen, vom Kaufpreis über sämtliche Betriebs- und Wartungsaufwände bis zum Wertverlust, schneiden Elektroautos immer häufiger besser ab als Verbrenner.“
Fakenews statt Fakten
Aber was zählen schon Fakten von Experten? Die gefühlten Weisheiten der Masse schlagen mir auch oft von Passanten an den Ladesäulen entgegen. „Sie Umweltverschmutzer!“, musste ich mir schon anhören – dabei wollte ich doch das Gegenteil sein. Ich habe außer auf Donald Trumps Twitter-Account und von Russland-Freunden selten so viele Unwahrheiten gehört, wie an deutschen Ladesäulen beziehungsweise auf Facebook zum Thema E-Mobilität. Manche Mythen halten sich hartnäckig und werden mit voller Überzeugungskraft verteidigt. Zumindest nicht mehr infrage gestellt – auch in den Leserbriefen unserer Zeitung.
E-Autos brennen viel häufiger als Verbrenner? Die Mitarbeiter von VW verlieren wegen der Elektromobilität ihre Jobs? Die Stromnetze brechen zusammen? E-Fuels und Wasserstoff sind viel besser? Die Wissenschaft hat schon mehrfach das Gegenteil bewiesen. Auch verwendet kein seriöser Autohersteller mehr wissentlich Kobalt, das von Kindern ausgebuddelt wurde, die chilenische Atacama-Wüste ist nicht der einzige Ort, an dem man Lithium gewinnen kann und bis heute ist auch noch kein einziger E-Auto-Fahrer in einem Winterstau erfroren. Ich schwöre!
E-Autofahrer müssen Shitstorms ertragen können
Aber ich wette zugleich fünf Kilowattstunden aus meinem Akku darauf, dass ich nach diesem Artikel wieder E-Mails bekomme, in denen ich der Lüge bezichtigt werde. Nur zu! Wenn es Sie beruhigt. Vielleicht hilft das ein wenig zur Beschwichtigung der Gemüter: Meine Überzeugung ist, dass E-Autos nicht die Lösung unserer Umweltprobleme sind – sie sind aber wohl im Vergleich zu herkömmlichen Autos das kleinere Übel. Noch besser wäre es natürlich, wir bewegten uns alle nur noch per Rad, Zug oder Bus – dann aber bitte ebenfalls ohne fossile Brennstoffe.
Der Autor dieser Zeilen hat auch das Buch „Ein E-Auto kaufen für Dummies“ vom Wiley-Verlag, Weinheim 2022, ISBN: 978-3-527-71951-8, 16 Euro, geschrieben.
Er hat auch die Facebook-Gruppe „E-Mobilität im Raum BS WOB SZ GF HE WF PE“ ins Leben gerufen – schauen Sie doch mal vorbei!
Ladetarife vergleichen kann man zum Beispiel auf Webseiten wie https://www.lowago.com/beliebte-ladetarife