Fußball

Andreas Rettig als Erlöser beim DFB: Chefkritiker übernimmt

| Lesedauer: 4 Minuten
Andreas Rettig.

Andreas Rettig.

Foto: dpa/DFB, Montage: Dilly

Frankfurt/Main.  Zuletzt boykottierte er die WM. Nun präsentiert der Deutsche Fußball-Bund ausgerechnet Andreas Rettig als neuen Geschäftsführer.

Als die Welt unterging, nippte Andreas Rettig an seinem Glühwein. Im vergangenen Dezember stand er auf dem Kölner Weihnachtsmarkt, als Deutschlands Fußballer kläglich in der WM-Vorrunde in Katar scheiterten. Es war seine Form des Protests gegen das Turnier in einem Staat, der Menschenrechte auf seine eigene verquere Art und Weise auslegt. Während die Weltuntergangsstimmung der deutschen Fußballfans mit jedem Vorrundenspiel ein bisschen größer wurde, besuchte Rettig Weihnachtsmärkte und Musicals, ging zum Italiener oder war Gast auf einer Katar-Podiumsdiskussion. Bloß kein Fußball, bloß keine WM mit der DFB-Elf. Und nun, ein Dreivierteljahr später, soll ausgerechnet Andreas Rettig dem Deutschen Fußball-Bund aus der Krise helfen.

Es sind verrückte Zeiten. Deutschland sucht fieberhaft einen neuen Bundestrainer und bekommt stattdessen am Freitag überraschend einen neuen DFB-Geschäftsführer präsentiert. Einen, der die WM in Katar boykottierte, der den Fußball aber über alles liebt. Sonst wäre er nicht seit fast vier Jahrzehnten professionell in Deutschland liebster Sportart engagiert. Der 60-Jährige war Manager bei Bayer Leverkusen, beim SC Freiburg, dem 1. FC Köln und beim FC Augsburg. Beim FC St. Pauli fungierte er als Geschäftsleiter und bei Viktoria Köln als Vorsitzender der Geschäftsführung. Verbandserfahrung sammelte er als Geschäftsführer der Deutschen Fußball-Liga (DFL) von 2013 bis 2015. Er war lange Jahre im DFB-Vorstand und verantwortete als Kommissionsvorsitzender die Einführung der Nachwuchsleistungszentren.

„König der Scheinheiligen“

Rettig hat viel erreicht in all den Jahren, er gilt aber auch als streitbare Persönlichkeit. Der jetzige Nationalmannschafts-Sportchef Rudi Völler bezeichnete Rettig einst als „Schweinchen Schlau“, als der Streit um die Verteilung der TV-Gelder an die Bundesligisten tobte. Von Uli Hoeneß gab es über die Jahre so manch bösen Anruf. Für Rettig ist der Ehrenpräsident des FC Bayern ein „Botschafter Katars“, Hoeneß beschimpfte Rettig zuletzt als „König der Scheinheiligen“.

Rettig, gebürtiger Leverkusener und Mitglied des Drittligisten Rot-Weiss Essen, ist streitbar, eckt an und ist in der Branche umstritten. Die DFL verließ er im Unfrieden, die ausufernde Kommerzialisierung des Fußballs ist Rettig ein Dorn im Auge. So trat er in den vergangenen Jahren immer wieder als Chefkritiker auf, schonte dabei weder Verbände, noch Klubs, Funktionäre oder Profis.

Zweite Wahl? Egal

Nun bekommt er die Chance, selbst Hand anzulegen, Taten statt Worte sprechen zu lassen. „Unsere Nationalmannschaften repräsentieren Deutschland. Sie sind von großen Erfolgen und aktuellen Problemen geprägt“, sagte Rettig, der kommenden Montag in der Frankfurter DFB-Zentrale offiziell als Nachfolger des im Dezember zurückgetretenen Oliver Bierhoff vorgestellt wird. Wohlwissend, dass die frühere Nationalspielerin Nadine Keßler erste Wahl war, es aber vorzog, bei der Europäischen Fußball-Union als Abteilungsleiterin zu bleiben.

Nur zweite Wahl? Egal. Rettig ist nun neuer stärkster Mann im operativen Geschäft. „Ich möchte dazu beitragen, die Ausrichtung des DFB und das Auftreten seiner Mannschaften in allen Richtungen zu verbessern.“ Für DFB-Präsident Bernd Neuendorf ist Rettig „ein erfahrener und durchsetzungsstarker Geschäftsführer. Die Erledigung der vielfältigen administrativen Aufgaben rund um die Nationalmannschaften und die Akademie bedarf einer starken Persönlichkeit.“

Wie wahr. Neun Monate vor der Heim-EM ist die Männer-Nationalmannschaft trotz des jüngsten Lichtblicks im Test gegen Frankreich (2:1) noch immer der größte sportliche Sorgenfall der Nation, die derzeitigen Nachwuchsmannschaften verbreiten weniger Hoffnung als so manche Goldene Generation der Vergangenheit. In seiner Geschäftsführungsposition ist Rettig formal den Sportdirektoren Rudi Völler (Männer-Nationalmannschaft) und Hannes Wolf (Nachwuchs) vorgestellt. Inwieweit er schon bei der Suche nach einem neuen Bundestrainer involviert ist, ließ der DFB zunächst offen. Doch auch die Frauen-Nationalmannschaft, die bei der WM vor einigen Wochen ebenfalls in der Gruppenphase gescheitert war und derzeit auf die erkrankte Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg verzichten muss, fällt in Rettigs Aufgabengebiet. Rettig ist als Krisenmanager gefragt. Die Zeiten des Glühwein-Boykotts sind vorbei.