Berlin. Die Behörden hielten einen jungen Syrer für gefährlich. Einen tödlichen Angriff verhindern, konnten sie nicht. Nun startet der Prozess.

Das Opfer ist arglos. Abdullah A. H. H. kommt von hinten und sticht mit aller Kraft zu. Die Klinge, 21 Zentimeter lang und relativ breit, durchdringt fast vollständig den Körper von Thomas L. (55) und bleibt an den Rippen stecken. So groß ist die Wucht, dass der Griff des Küchenmessers abbricht.

Es ist der Abend des 4. Oktober 2020, und Thomas L. wird Todesopfer eines islamistischen Terroranschlags. Jetzt hat der Generalbundesanwalt Anklage erhoben. Der Vorwurf lautet Mord. Vor dem Oberlandesgericht Dresden soll nicht zuletzt aufgeklärt werden, ob der Terroranschlag aus Hass auf Homosexuelle geschah – das wäre ein Novum in Deutschland. Lesen Sie auch: Islamistischer Terror: Wie viele Zeitbomben ticken noch?

Chronik eines angekündigten Verbrechens

Aufgerollt wird die Chronik eines angekündigten Verbrechens. Für den FDP-Politiker Konstantin Kuhle ist es eine „traurige Wahrheit“, dass die Gefährlichkeit des Täters den Behörden bekannt war. Sie wussten, dass der junge Syrer Ungläubige umbringen wollte.

Vor dem Innenausschuss des Bundestages räumte die Bundesanwaltschaft Ende Oktober ein, es bestünde keine Möglichkeit, so einen Menschen einzusperren, „bis er etwas getan hat“. Ein Mann musste sterben und ein weiterer verletzt werden, bis der Islamist gestoppt wurde.

4. Oktober 2020: Spurensicherung am Tatort.
4. Oktober 2020: Spurensicherung am Tatort. © dpa | Roland Halkasch

Nahe der Niere und an der Kniekehle verletzt

Das zweite Opfer, Oliver L. (53), denkt damals an einen Raubüberfall, klammert sich an seine Umhängetasche und wehrt sich mit Fußtritten. Der Mann wird verletzt, nahe der Niere und an der Kniekehle, und blutet stark. Lesen Sie auch: Messerattacke in Würzburg – Hinweise auf islamistisches Motiv

Es ist zwar schon dunkel, 21.25 Uhr, aber die Dresdner Rosmaringasse im Kneipen- und Restaurantviertel ist eine belebte Gegend, gerade an diesem Wochenende der Einheitsfeiern, auch die beiden Opfer sind Touristen, 55 und 53 Jahre alt, aus Köln und Krefeld. Aus Angst, erkannt und gefasst zu werden, lässt der Täter von Oliver L. ab und flieht.

Bei Festnahme wieder ein Messer bei sich

16 Tage vergehen, bis die Polizei dem Täter auf die Spur kommt. In der Zeit firmiert die Tat als „Touristenmord“, für Kuhle „unerträglich“. Bei der Festnahme ist Abdullah A. H. H. wieder schwarz gekleidet, trägt wieder einen Rucksack und ein Messer bei sich.

Die Ermittler fragen sich, ob sie an jenem 20. Oktober eine weitere Bluttat verhindert haben. Kaltblütig genug ist der Mann. Nach dem Mord an Thomas L. geht er zur Organisation „Violence Prevention Network“ (VPN), die auf Gewaltprävention und Deradikalisierung setzt und die über sich sagt: „Wir reden mit Extremisten. Nicht über sie.“ Auch interessant: Terrorismus: In Deutschland ist kein Platz für Verbrecher

Die Experten von VPN wurden beauftragt, den Islamisten zu betreuen. Er musste zu ihnen kommen, das war eine staatliche Auflage. A. H. H. gibt sich wie immer, seinen Betreuern fällt nichts auf. „Wenn einer so gestrickt ist wie dieser Typ“, sagt ein Vertreter der Generalbundesanwaltschaft vor dem Innenausschuss des Bundestages, „steht man fassungslos davor.“

Verdacht: Homosexuelles Paar bewusst ausgesucht

Warum er Thomas L. und Oliver L. angegriffen hat, muss im Prozess aufgearbeitet werden. Vielleicht war es Zufall, vielleicht suchte er sich die zwei Männer aus, weil sie ein homosexuelles Paar sind. Das ist der Verdacht. Man weiß, welche Strafe der IS für Homosexuelle vorsieht: Sie werden von Hochhäusern heruntergestoßen.

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    Zur Tatzeit ist Abdullah 20 Jahre jung und seit Herbst 2015 in Deutschland, einer der vielen Geflüchteten. Die Ermittler glauben, dass er auf Geheiß der Eltern Aleppo verließ, um das Familieneinkommen aufzubessern und – eine Ironie – um ihn vor Übergriffen des IS zu schützen.

    Unserer Redaktion liegt eine sechsseitige Fallchronologie des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vor, inklusive mehrerer Aliasnamen. Abdullah A. H. H. variierte seinen Vornamen und sein Alter.

    Chatpartner aus dem Jemen empfiehlt IS-Krieger

    Erst in Deutschland radikalisiert er sich. Erst hier wird sein Interesse am Dschihad geweckt, bekennt er sich zum IS und plant, sich ihm anzuschließen. Er empfindet sich als „sündig“ und sieht nur einen Ausweg, die Prüfung durch das Jüngste Gericht zu bestehen: im direkten Weg ins Paradies durch den Märtyrertod.

    In Chats kommen ihm die Ermittler auf die Spur, weil er nach einer Bauanleitung für einen Sprengstoffgürtel sucht und am 24. Juli 2017 einem Chatpartner aus dem Jemen empfiehlt, sich den IS-Kriegern anzuschließen. Mehr zum Thema: Nach Anschlag in Wien: BKA-Durchsuchungen in Deutschland

    Bereits 2018: Zwei Jahre und neun Monate Gefängnis

    Die Behörden haben genug gehört. Am 30. August 2017 wird er verhaftet, am 30. November 2018 vom Oberlandesgericht Dresden zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt.

    Es war einiges zusammengekommen: Verwenden von Kennzeichen des IS, Körperverletzung, Bedrohung, Erschleichen von Leistungen, Sachbeschädigung und Hausfriedensbruch. Als er im Gefängnis einen Aufseher schlägt, wird die Strafe auf drei Jahre und einen Monat erweitert.

    Dort vertritt er die Ansicht, dass es legitim sei, Ungläubigen den Kopf abzuschneiden, und preist die Scharia an. Für Kuhle ein Alarmsignal: „Wir müssen verhindern, dass islamistische Grundüberzeugungen in den Gefängnissen kultiviert und ausgebaut werden.“

    Kerzen für die Todesopfer des Messerangriffs.
    Kerzen für die Todesopfer des Messerangriffs. © picture alliance/dpa | Marcel Kusch

    BND lag Warnung dem späterem Attentäter vor

    Als der Syrer am 29. September 2020 die Strafe verbüßt hat und aus der Haft entlassen wird, sind die Behörden wachsam: Der Gefährder wird für fünf Jahre der Führungsaufsicht unterstellt und hat eine Vielzahl von Auflagen zu erfüllen: keine Waffen, keine Kontakte zu Radikalen, dreimal wöchentlich soll er sich bei der Polizei melden, dazu Deradikalisierungsangebote, das ganze staatliche Programm.

    Und trotzdem beweist die Tat für Kuhle, „dass Polizei und Justiz bei der Radikalisierung bestimmter Personen in Deutschland über blinde Flecken verfügen“. Der Gipfel: Dem Bundesnachrichtendienst lag eine Warnung vor dem späteren Attentäter vor, leitete sie aber nicht weiter.

    Behörden gehen zunächst von Mord aus

    Der Verfassungsschutz beobachtet den Syrer und hat heimlich eine Kamera installiert. Dem Geheimdienst entgeht am 2. Oktober nicht, dass er in der Altmarkt-Galerie einkaufen geht. Sie sehen, wie er das Kaufhaus betritt, nicht aber, was er erwirbt: einen Rucksack, eine Trinkflasche, zwei Messersätze, fünf Küchenmesser.

    Die Kaufhauskameras dokumentieren, wie er das Gebäude betritt, und die Verkäuferin wird sich später gut an den jungen Mann im auffälligen roten Pullover oder Polo erinnern. Lesen Sie hier: Nach Anschlag in Nizza: Warnung vor Nachahmungstaten

    Es sind die Messer, die er zwei Tage später beim Anschlag benutzt. Die Behörden gehen zunächst von Mord aus. An den Schuhen von Oliver L, der sich mit Fußtritten gewehrt hatte, finden sich fremde DNA-Spuren. Die Datei ergibt einen Treffer, es ist der 20. Oktober: Terrorverdacht gegen Abdullah A. H. H. 16 Tage hat es gedauert.

    Staatsanwaltschaft will Attentäter wie Erwachsenen behandeln

    Die Behörden hatten den Syrer vor der Tat weder wegsperren noch in seine Heimat zurückbringen können, weil ein Abschiebestopp galt. Unter dem Eindruck von Dresden haben ihn die Innenminister der Länder Ende 2020 nicht mehr verlängert.

    Aufgrund seines Alters galt für Abdullah A. H. H. beim ersten Prozess 2017 noch das mildere Jugendstrafrecht. Auch heute könnte er theoretisch danach verurteilt werden, die Höchststrafe betrüge dann zehn Jahre. Aber bei einem Heranwachsenden zwischen 18 bis 21 Jahren kann das Gericht den Attentäter auch wie einen Erwachsenen behandeln – darauf setzt die Staatsanwaltschaft.