Berlin. Die Außenministerin reist am Dienstag in die Ukraine. Ihr Besuch führt sie durch die Stationen eines Krieges – vorbei an Gräberreihen.

Annalena Baerbock trägt eine Schutzweste, als sie in der Kirche in Butscha eine Kerze anzündet und in den Sand steckt. Butscha, der Ort des Grauens, der zu einem Symbol für die Brutalität des Krieges wurde, ist die erste Station der deutschen Außenministerin auf ihrem Weg in die ukrainische Hauptstadt. Sie ist das erste deutsche Kabinettsmitglied, das seit dem russischen Überfall auf die Ukraine nach Kiew reist und sich ein Bild macht von der Lage vor Ort.

Sie fährt am Dienstag von Butscha über Iprin nach Kiew, wo sie die deutsche Botschaft wieder öffnet und ihren Amtskollegen Dmytro Kuleba trifft. Danach wird sie gemeinsam mit dem niederländischen Außenminister Wopke Hoekstra auch von Präsident Wolodymyr Selenskyj empfangen. Freundlich und offen sei die Atmosphäre gewesen, heißt es aus Delegationskreisen. Es ging um militärische Unterstützung und um Hilfe für den Wiederaufbau. Selenkyj bedankte sich für die Unterstützung. Es sei von großem Wert, dass sich Deutschland solidarisch zeige mit dem ukrainischen Volk, sagt er, wie auf einem Video zu sehen ist, dass die ukrainische Regierung aufgenommen hat.

Lange hatte die Ausladung von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der gemeinsam mit den Präsidenten der baltischen Staaten und Polens nach Kiew reisen wollte, für erhebliche Verstimmung gesorgt. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte die die Ausladung als Hindernis für eine Reise nach Kiew bezeichnet. Nachdem der ukrainische Präsident Wolodomyr Selenskyj mit Steinmeier telefoniert und Unstimmigkeiten ausgeräumt hatte, kündigte Scholz den baldigen Besuch der Außenministerin an.

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Baerbock zündet Kerze in Butscha an

Nun ist sie da. Die ukrainische Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa begleitet Baerbock durch Butscha und erklärt, was geschehen ist, als russische Milizen den Ort besetzt hielten. Nach dem Abzug der russischen Truppen fanden die Überlebenden mehr als 400 Tote, einige mit zusammengebunden Händen, andere neben ihrem Fahrrad, viele mit entsetzlichen Folterspuren.

Seit Wochen sammeln die Ermittler Beweise, um dieses unglaubliche Verbrechen aufzuklären. Annalena Baerbock hört schweigend zu. Später sagt sie, es sei ihr wichtig, der Welt deutlich zu machen, was für Verbrechen passiert sind. „Das sind wir den Opfern schuldig. Diese Opfer, das spürt man hier sehr deutlich, das könnten auch wir sein.“ Butscha und Irpin sind Orte nahe Kiew, das sei wie „Potsdam vor Berlin“, sagt die Außenministerin, die in Potsdam wohnt. „Es zerreißt einem das Herz“, sagt sie später und verspricht, dass die „Verantwortlichen für dieses Grauen zur Verantwortung gezogen werden.

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In Butscha lebten vor der Invasion 35.000 Menschen. Es ist ein Städtchen mit Einfamilienhäusern, kleinen Appartmentblöcken, Supermärkten und vielen Grünanlagen. Die Stätten des Grauens liegen in dieser Kleinstadt nah beieinander. Vor der schneeweißen St. Andreas-Kirche mit ihren goldglänzenden Kuppeln geht der sattgrüne Rasen an einem Rand des Grundstücks in nackten, ockerfarbenen Lehmboden über. Hier wurden die toten Körper von über 100 Menschen in zwei Massengräbern gefunden.

Nur wenige hundert Meter südlich ist die Jablonska, die Straße, auf der nach dem russischen Abzug die Leichen von Zivilisten entdeckt wurden, die von russischen Soldaten ermordet worden sein und dort über Wochen gelegen haben sollen. Die Bilder der Toten sorgten für weltweites Entsetzen.

Frische Gräberreihen zeugen vom Leid der Bevölkerung

Die Jablonska kreuzt weiter östlich die Wokzalna, eine Straße, in der bis vor Kurzem die rostenden, zerschossenen Wracks russischer Panzerfahrzeuge standen. Sie waren beim Vormarsch in einen ukrainischen Hinterhalt geraten. Heute zeugen an der Wokzalna nur noch verkohlte Bäume und die Ruinen von Häusern von den erbitterten Kämpfen in dieser Straße.

Nur einige Minuten westlich der St. Andreas-Kirche liegt der Friedhof der Kleinstadt. Hier reiht sich ein frisch aufgeworfener Grabhügel an den nächsten, bunte, neue Kränze hängen an den Kreuzen. Allein auf diesem Friedhof wurden in den vergangenen Wochen mehr als 100 neue Gräber ausgehoben, um die Opfer des Kriegs zu bestatten.

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Außenministerin reist nach Irpin weiter

Irpin liegt gleich nebenan, von dort ist es nicht mehr weit nach Kiew – gerade einmal eine halbe Stunde Fahrt, wenn es reibungslos läuft. In der Kleinstadt sollen während der erbitterten Kämpfe im März Hunderte Zivilisten gestorben sein. Russische Soldaten töteten in der Nähe des Ortes Mitte März auch den US-amerikanischen Journalisten Brent Renaud.

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In Irpin fährt Baerbock über die Ersatzbrücke über das kleine Flüsschen Buchanka, die nach dem russischen Abzug Ende März eilig errichtet wurde. Sie führt vorbei an der zerstörten Brücke, unter der Zivilisten Schutz suchten, als sie zu Beginn des Kriegs vor dem russischen Vormarsch flohen.

Besuch in Kiew steht an

25.000 Menschen sind inzwischen wieder nach Irprin zurückgekehrt, sagt Bürgermeister Olexander Markuschyn beim Treffen mit Baerbock. Aber 2000 Wohnungen seien durch die russischen Angeriffe zerstört, 35 Hochhäuser weggebombt. Zudem seien große Teile des Gebiets um die Hauptstadt vermint, so Militärgouverneur Olexander Pawljuk. Man brauche dringend zahlreiche Minenräumen. „Sie sind ein sehr tapferes Land“, sagt Baerbock.

Die Außenministerin nimmt die Eindrücke mit nach Kiew. Dort sagte sie weitere Unterstützung Deutschlands in allen Bereichen zu und erklärte, Deutschland werde künftig ohne russische Energie auskommen: „Deshalb reduzieren wir mit aller Konsequenz unsere Abhängigkeit von russischer Energie auf Null – und zwar für immer“. Sie sprach von Kiew als „Stadt der Freiheit“ und nannte die Ukraine einen „festen Teil Europas“. Eine schnelle Mitgliedschaft in der EU könne sie aber nicht zusagen. Sie wolle keine falschen Versprechungen machen: „Auf dem Weg in die EU kann es keine Abkürzungen geben“.

Wann Bundeskanzler Olaf Scholz nach Kiew reist, ist weiter unklar. Am Sonntag war Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) als zweithöchste Repräsentantin Deutschlands in Kiew. Selenskyj hatte den Kanzler für den 9. Mai eingeladen, dem höchsten russischen Feiertag.

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An diesem Tag zelebriert Russland den Sieg über Hitler-Deutschland. Selenskyj hatte sich von einer Reise des deutschen Kanzlers in der Ukraine an diesem Tag einen Besuch mit hoher Symbolwert versprochen.

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Dieser Artikel erschien zuerst bei waz.de