Wolfenbüttel. Der Dermaroller-Geschäftsführer spricht über Hautpflege als Geschäft, chinesische Handelspartner und seinem Gerichtserfolg über Amazon.

Michael Tomerius ist geschäftsführender Gesellschafter der auf Microneedling und Hautpflegekonzepte spezialisierten Dermaroller GmbH. Wir sprachen mit dem Asien-Fan in der Wolfenbütteler Unternehmenszentrale über eine herausfordernde Kindheit, den überraschenden Anruf aus der chinesischen Alibaba-Zentrale und darüber, wie es sich anfühlt, gegen einen alles beherrschenden Marktplatz vor dem Bundesverfassungsgericht zu gewinnen …

Herr Tomerius, die Ursprünge von Dermaroller liegen in Frankreich. Können Sie uns mit in diese Zeit nehmen?

Das Unternehmen wurde 1999 von meinem Stiefvater Horst Liebl in Zelsheim im Elsass gegründet. Es gab damals erste Studien, die festgestellt haben, dass die Haut von tätowierten Menschen dicker ist. Hintergrund ist, dass sie Kollagene und Elastine ausschüttet, wenn sie mit atraumatischen Nadeln perforiert wird. Liebl hat sich dann mit dem Chirurgen Professor Desmond Fernandes aus Südafrika zusammengetan und die ersten Prototypen des Dermarollers entwickelt.

Wie ging es weiter?

Beide waren so richtige Silberrücken: Machertypen, die nichts vertraglich vereinbart hatten. Also hat Fernandes das Produkt genommen und wollte es über seine Kosmetikfirma vertreiben. Das sah Liebl natürlich anders …

… klingt nach einem Rechtsstreit?

Es war mehr als das. Die beiden haben sich in der Öffentlichkeit total zerfetzt.

Wie sind Sie ins Unternehmen gekommen?

Als 2006 die Dermaroller S.a.r.l. France gegründet wurde, gab es den ersten Ärger von der regulatorischen Seite. Denn der Dermaroller wurde als Medizinprodukt durch Zweckbestimmung eingestuft und damit reichte die ISO 9001-Zertifizierung nicht mehr aus. Also rief mich eines Tages mein Stiefvater an und sagte: „Michael, mach mal …“

… und?

Ich war in dieser Zeit im Vertrieb von Olympus Medical für Norddeutschland zuständig. Dort sagte man mir, dass es ohne akademischen Abschluss nicht weiter gehen würde und wollte, dass ich nach Hamburg ziehe und dort an der Europa Universität einen Bachelor mache. Das kam für mich nicht in Frage. In dieser Zeit kam das Angebot aus Zelsheim. Also saß ich das nächste Jahr am Schreibtisch und habe ISO-Normen gewälzt. Am Ende habe ich es geschafft, die deutsche GmbH nach ISO 13485, der Norm für Medizinprodukte, zu zertifizieren und war deren Geschäftsführer.

Wie war das Verhältnis zu Ihrem Stiefvater?

So wie man es sich zwischen Stiefsohn und -vater vorstellt: nicht gut. (lacht) Der Streit hat deshalb nicht lange auf sich warten lassen – auch, weil er als Erfinder einfach machen wollte und ich, obwohl das eigentlich keine Rolle ist, die mir liegt, aus regulatorischen Gründen ständig auf der Bremse stand. Das ist irgendwann vollkommen eskaliert.

Das klingt mehr nach feindlicher Übernahme als nach einer klassischen Nachfolge …

Wir haben drei Gerichte beschäftigt, es endete mit einem Geschäftsführeraberkennungsverfahren. Dafür muss man verstehen, dass ich mit dem Rücken zur Wand stand. Ich hielt 40 Prozent an der Firma, aber er hat alle Optionen einer gütlichen Trennung blockiert. Allerdings hat er mich mit 14 zum Kampfsport geschickt, dafür bin ich ihm dankbar. Denn dort habe ich gelernt, dass man aus der Ecke raus muss – es hilft nur die Flucht nach vorn. Und die endete mit der Übernahme der Firma.

Firmengründung in Zelsheim, der Stiefvater – können Sie uns noch etwas mehr zu Ihrer Familie erzählen?

Mein Stiefvater kommt aus dem Bayerischen, und hat einen relativ bewegten Lebenslauf. Er war beim Militär und hat bei Messerschmitt-Bölkow-Blohm dieBO 105 als Rettungshubschrauber in den Markt gebracht. Meine Mutter hat ihn bei der Hochzeit von Sheikh Hamad in Abu Dhabi kennengelernt, sie war im Asil Araber Club. So wurde er mein Stiefvater. Die Geschichte fängt natürlich früher an. Ich bin ein Gewächs der Region. Meine Großeltern haben die Dr. Brachmann Klinik in Wolfenbüttel aufgebaut und geleitet, die andere Familienhälfte war als Anwalt aktiv, mein Vater Gynäkologe mit einer Praxis im Heidberg. Ich habe als Vertriebler in der Medizintechnik einen anderen Weg eingeschlagen.

Warum?

Weil ich früh gesehen habe, dass der Ärzteberuf glorifiziert wird, aber eben auch Schattenseiten hat, die sich am Ende im Suizid meines Vaters niedergeschlagen haben. Ich bin quasi im Krankenhaus meiner Großeltern aufgewachsen. Das hat mich auch alles interessiert – aber 24/7 in Bereitschaft sein, die ganze Verantwortung: Das hat einen Preis, den oft die Familien zahlen. Wir sind später zu meinem Stiefvater nach Stuttgart gezogen, aber ich musste aus diesem familiären Spannungsverhältnis raus und habe mich dann selbst mit 15 Jahren im Internat in Bad Sachsa angemeldet.

Als Akt der Befreiung?

Es war nicht leicht, aber das Leben hat mich damals gelehrt, dass man eigene Entscheidungen besser vertreten kann und es dann keine Ausreden gibt. Das Internat habe ich höchstens in den Ferien verlassen. In diesem Mikrokosmos konnte ich mich gut entwickeln. Ich habe dort einen neuen Freundeskreis und ein Zuhause gefunden. Wobei man sich das Leben dort nicht sehr elitär vorstellen sollte.

Wie meinen Sie das?

In England heißt es, wenn du dich nicht benimmst, darfst du nicht ins Internat. In Deutschland war es andersherum: Wenn du dich hier nicht benimmst, kommst du ins Internat. Ich traf dort auf viele Kinder, die quasi ausquartiert waren. Als ich 17 war, ist meine Mutter mit meinem Stiefvater dann für fünf Jahre nach Abu Dhabi gezogen. Ich ging zu meiner älteren Schwester nach Göttingen und dann nach Stuttgart, um eine Ausbildung als Groß- und Außenhandelskaufmann in der Medizintechnik bei der Firma Haeberle zu beginnen. Schwäbischer geht es kaum (lacht).

„Wenn ich nachts mal wach werde und eine Milch trinke, kann ich auf jeden Fall jemanden anrufen – irgendwo auf der Welt wird immer gearbeitet.“
„Wenn ich nachts mal wach werde und eine Milch trinke, kann ich auf jeden Fall jemanden anrufen – irgendwo auf der Welt wird immer gearbeitet.“ © FMN | Holger Isermann

Warum sind Sie zurück nach Wolfenbüttel gekehrt?

Wegen der schweren Krebserkrankung meiner Großmutter. Als sie gestorben ist, haben mein Großvater und ich eine Junggesellen-WG mit 50 Jahren Unterschied gegründet. Wolfenbüttel war immer Heimat für mich, aber gerade zu Beginn der Rückkehr war es nicht leicht.

Wegen der Erinnerungen?

Weil mein Name hier bekannt war. Wenn ich mich vorgestellt habe, hieß es immer: Sind Sie der Sohn des Rechtsanwaltes? Wenn ich antwortete, dass mein Vater der Gynäkologe war, hat man mir noch Jahre danach das Beileid ausgesprochen. Das habe ich als reichlich verspätet empfunden, denn zur Wahrheit gehört auch, dass die Unterstützung aus der Stadtgesellschaft oder den Social Clubs in der Zeit, in der es meinem Vater mit seiner Suchterkrankung wirklich schlecht ging, sehr überschaubar war. Dann merken Sie schnell, wer ihre wirklichen Freunde sind.

Wie fühlt es sich an, dass Sie mit Ihrer eigenen Geschichte die Ihrer Familie ein stückweit neu schreiben?

Ich schreibe kräftig, aber im Ernst: Es war nie mein Antrieb, irgendetwas reinzuwaschen. Ich mache am liebsten Dinge, die mir am Herzen liegen und dann auch mit der nötigen Konsequenz, um sie zum Erfolg zu führen. Zur Konfirmation meines Sohnes in der Corona-Zeit brachte mein Onkel statt eines großen Geschenkes einen Händedruck sowie folgende Worte mit: „Du bist jetzt erwachsen und der Name Tomerius verpflichtet. Wir erwarten viel von dir.“ Wir sind eben preußisch erzogen worden und ich finde es schön, dass dieses Wertesystem überdauert hat.

In welcher Lage war Ihr Unternehmen, nachdem der Rechtstreit mit Ihrem Stiefvater durchgestanden war?

Es war kritisch, wir lagen damals nur bei rund 1,7 Millionen Euro Umsatz. In einer solchen Situation spart man erstmal bei sich selbst und schaut, dass das Unternehmen weiterläuft. Unser großes Glück war in dieser Zeit der Milchpulverskandal in China, auch wenn es natürlich nie das Ziel ist, von solchen Ereignissen zu profitieren. Auf jeden Fall standen plötzlich zwei chinesische Herren mit riesigen Koffern vor der Tür und wollten Dermaroller-Masken plus Hyaluronsäure-Ampullen kaufen.

Und?

Ich habe sie weggeschickt, wir verkaufen nicht an Privatpersonen und schon gar nicht kofferweise (lacht). Allerdings waren wir bei Christian Hantelmann in der Bahnhofsapotheke gelistet und eine halbe Stunde später rief er an und meinte, dass zwei Chinesen bei ihm in der Apotheke stünden. Am Ende hat sich herausgestellt, dass wir es mit dem Daigou-Business zu tun hatten, das sich nach dem Milchpulverskandal herausgebildet hat. Das sind geschätzt 1.800 Einkäufer, die viel Einfluss haben und Produkte für den chinesischen Markt suchen.

War das Ihre Eintrittskarte nach China?

Ja, wir sind relativ schnell von 1,7 auf 19,5 Millionen Euro Umsatz gewachsen und hatten am Ende mit einem Netzwerk von 30 dieser Einkäufer zu tun. Das gipfelte eines Tages in einer Einladung von Alibaba.

Sind Sie hingeflogen?

Na klar. Es geht darum, dass wir Handelspartner werden sollten. Sie haben dann dort Trustable-Partners-Büros mit Lohnarbeitern, die den gesamten Vertrieb übernehmen, das Einstellen der Produkte in die Shops, die Kommunikation über Social Media. Das können Sie von Deutschland aus gar nicht in dieser Form steuern. Wir wurden also empfangen und anfangs lief alles glatt.

Aber?

Plötzlich offenbarte man uns, dass unsere Marke zwar medizintechnisch durchgeschützt wäre, aber eben nicht als Kosmetikprodukt – und darum ginge es ja. Also könnten wir keinen Flagshipstore eröffnen und Dermaroller wäre in China nicht vermarktbar. Ich war perplex – einen Arschtritt hätte man mir auch schriftlich verpassen können, dafür muss man wirklich nicht um den halben Erdball fliegen. Mir fiel aber ein, dass wir die mi.to. pharm als Kosmetikmarke geschützt hatten. Unserer Ansprechpartnerin, ihr englischer Name war Elisabeth, sagte, dass wir zusammenkommen, wenn wir bis 19 Uhr einen Flagship Store der Marke mi.to. pharm auf die Beine stellen würden. Da war es gerade 15 Uhr.

Sportlich!

Stimmt, wir haben direkt im Zug nach Shanghai angefangen und um 18:59 Uhr war der Shop live. Den gibt es heute noch. Mittlerweile sind wir auf allen relevanten Plattformen in China vertreten.

Der klassische Weg deutscher Unternehmen ist ja eher, billig in China zu produzieren und hier teuer zu verkaufen. Sie machen es genau andersherum … warum?

Entscheidend ist sicher das große Vertrauen ins Produkt und die Marke. Das merken wir auch an der hohen Rebuy-Quote in den Shops. Wir konnten die Marketingkosten zuletzt deshalb um 45 Prozent senken.

Spielt „Made in Germany“ eine Rolle?

Schon, die Marke Dermaroller Mask mit dem Design ist dort sehr populär und wird mittlerweile als Blue Mask imitiert. Der Vorsprung im E-Commerce im Vergleich zum deutschen Markt ist riesig.

Der Vielreisende in Sachen Kosmetik zeigt, wie die Tuchmaske von Dermaroller funktioniert.
Der Vielreisende in Sachen Kosmetik zeigt, wie die Tuchmaske von Dermaroller funktioniert. © FMN | Holger Isermann

Bei TEMU kann man einen Derma Roller, in diesem Fall auseinandergeschrieben, für Bart und Kopfhaut für 1,80 Euro kaufen …

Viel Spaß damit. Wir verbauen in unser Produkt 162 in Deutschland produzierte Nadeln aus der atraumatischen Wundversorgung und es braucht pro Nadel sieben Arbeitsschritte. Das von Ihnen genannte Produkt ist mit Sicherheit ein Disk-Needle-Roller – das ist ein dünnes Metallbrett, aus dem Nadeln ausgestanzt werden. Die Dinger sind nicht zertifiziert und bestehen aus günstigsten Materialien. Im Labor finden Sie bis zu Fäkalkeimen alles auf diesen Rollern.

Das heißt, auch wenn sie sich ähneln, haben Ihrer und der TEMU-Roller wenig miteinander gemein?

Schauen Sie, wir sind weltweit rund 50 Leute und allein fünf davon arbeiten im Regulatory Affairs-Bereich. Denn wir benötigen für jedes Land eine Zulassung und die Einstiegshürden gerade in europäische Märkte sind sehr hoch. Wir haben übrigens auch schon gegen Amazon geklagt.

Warum?

Weil man uns plötzlich unseren Shop geschlossen hat! Der Beschwerdebrief kam auf Spanisch und dann wurde die Kommunikation komplett eingestellt. Der Streit ging bis zum Bundesverfassungsgericht und es war das erste Mal, dass ein deutsches Gericht eine marktbeherrschende Stellung von Amazon festgestellt hat. Damit stehen wir in den Rechtslehrbüchern. Zwischendurch rief ein Anwaltsbüro aus Luxemburg an und fragte, welche Summe es bräuchte, damit wir die Klage zurücknehmen.

Sie scheinen mit allen juristischen Wassern gewaschen …

Ich stecke nicht zurück, nur weil es Amazon ist.

Wie blicken Sie auf die Macht der Plattformen, die sich zwischen Produzenten und Kunden schieben und denen Sie ein Stückweit ausgeliefert sind?

Wir wurden damals von einem Rechtsprofessor als David bezeichnet, der gegen Goliath kämpft und er dankte uns explizit dafür, dass sich mal jemand wehrt. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass mein erster Gedanke als der Amazon-Brief kam, lautete, „das war’s!“. Denn einen Prozess gegen dieses Unternehmen können Sie als Mittelständler aus Wolfenbüttel nicht stehen. Ohne die einstweilige Verfügung ohne Anhörung beim Landgericht Hannover hätten wir keine Chance gehabt. Im vergangenen Jahr haben wir dann die strategische Entscheidung für einen neuen Webshop getroffen, um uns ein wenig unabhängiger zu machen.

Ist der Dermaroller aus Wolfenbüttel eigentlich das beste Produkt am Markt?

Ja, ansonsten säße ich hier komplett falsch. Es ist zudem eines der ganz wenigen Produkte, das überhaupt den regulatorischen Anforderungen entspricht. Man kann den Roller billiger bauen lassen, definitiv – denn unsere mit einem Maschinenbauer gemeinsam entwickelten, teilautomatisierten Maschinen könnte ich natürlich in ein Billiglohnland stellen. Nur: Wolfenbüttel ist meine Heimat und solange wir hier noch gewinnbringend produzieren können, ist unser Sitz hier genau richtig.

Die Kosmetikprodukte lassen Sie aber bei Lohnproduzenten abfüllen, oder?

Genau. Wir kaufen uns ja auch keine Kuh, wenn wir einen Liter Milch pro Tag benötigen. Alles, was Nadeln hat, produzieren wir hier selbst, die Kosmetik extern. Das ist in der Branche üblich, weil sie sonst Schwierigkeiten haben, die Abfüllmaschinen auszulasten.

Muss man sich den Standort Deutschland heutzutage leisten können?

Bei der Energie haben Sie Recht, wobei wir ja eigentlich alle die Energiewende wollen; die hat eben ihren Preis. Deshalb schlagen zwei Herzen in meiner Brust: Wir haben das Glück, dass die Margen im Kosmetikbereich ordentlich sind und wir nicht auf die dritte Stelle nach dem Komma schauen müssen. Ich schlafe außerdem nachts gern ruhig, deshalb passt es nicht zu mir, beim Produkt zu sparen und sich nur auf die Marge zu konzentrieren. Beides muss zusammenpassen.

„Alles, was Nadeln hat, produzieren wir in Wolfenbüttel selbst.“ Ein Blick in den Reinraum, in dem die Dermaroller hergestellt werden.
„Alles, was Nadeln hat, produzieren wir in Wolfenbüttel selbst.“ Ein Blick in den Reinraum, in dem die Dermaroller hergestellt werden. © Dermaroller | Philipp Ziebart

Ihr Marketingteam mit Tobias Bosse sitzt in Hamburg. Wie kam es dazu?

Ausgangspunkt war ein Oberlippenbart (lacht). Es gibt glaube ich vier Personen weltweit, die meinen Bart im Movember großartig fanden, einer davon war Tobias, den ich bei einem Interview kennengelernt habe. Danach haben wir viel telefoniert und ich habe seine Begeisterung für das Produkt gespürt. So kam es zur Entscheidung ihn ins Team zu holen …

… aber nicht nach Wolfenbüttel?

Wir hatten zwischenzeitlich den Marketingleiter von Birkenstock aus Berlin angestellt, und den Communication Chef einer größeren Firma aus dem Bayerischen. Der Headhunter hat uns bei den Gehaltsklassen einiges gekostet, allerdings haben wir dann während Corona auch gesehen, was passiert, wenn Menschen keine Anbindung haben und an einem fremden Ort in Betriebswohnungen eingesperrt sind. Du kannst solche Mitarbeiter nicht halten. Daraus habe ich gelernt.

Ist die Provinz ein Standortnachteil?

Ich würde mir ja wünschen, dass die Menschen nach Wolfenbüttel strömen, weil wir hier sitzen – aber das ist nicht so. Wir hatten eigentlich einen großen Neubau geplant. Nun bin ich froh, dass wir kein Schlösschen ins Industriegebiet gesetzt haben, das mit den heutigen Regelungen niemand gebraucht hätte. Ich hatte am Anfang wirklich Bauchschmerzen beim Homeoffice – das gebe ich offen zu, aber meine Erfahrungen mit unserer dezentralen Struktur sind positiv. Dazu kommt, dass wir durch unsere internationale Aufstellung oft jenseits der klassischen Bürozeiten arbeiten. Wenn ich nachts mal wach werde und eine Milch trinke, kann ich auf jeden Fall jemanden anrufen – irgendwo auf der Welt wird immer gearbeitet.

Ist das Team in Hamburg komplett remote aktiv?

Nein, in einem WeWork-Center. Das Ziel ist durchaus, dort einen Standort auszugründen, wenn wir weiterwachsen. In Hamburg herrscht eine totale Start-up-Stimmung, das funktioniert ganz großartig. Wir haben dort einen riesigen Zulauf an Mitarbeiter:innen. Im Vergleich zu Jobausschreibungen in Wolfenbüttel erhalten wir zehnmal so viele Bewerbungen.

In welchen Märkten Sind Sie aktiv?

Unser Hauptsitz ist in Wolfenbüttel, die mi.to.pharm macht Europa und Middle East, die Dermaroller International ist eine reine Beteiligungsfirma zur Absicherung gegen Auslandsrisiken. In Hong Kong sind wir mit der Dermaroller Asia Pacific aktiv, mit der Dermaroller Americas in New York und mit der Dermaroller UK zusammen mit einem strategischen Partner in Großbritannien. Dazu kommt die Dermaroller Japan.

Es gibt außerdem noch die Tomerius Immobilien- und Verwaltungs GbR. Ist das ein privates oder ein geschäftliches Thema?

Ich muss eben immer etwas machen (lacht). Die GbR, die jetzt in eine GmbH und Co. KG gewechselt ist, beschäftigt sich mit Wohnungen. Denn wir haben in der Vergangenheit häufig Mitarbeiter:innen gehabt, die hier nur schwierig eine Bleibe gefunden haben. Ich selbst schlafe rund 120 Nächte pro Jahr im Hotel und weiß, dass Menschen ein Zuhause schätzen. Deshalb haben wir mittlerweile Betriebswohnungen, schaffen vor Ort Wohnraum.

Verstehen Sie sich eigentlich als Medizingeräte- oder Kosmetikhersteller?

Ersteres. Unsere ersten Roller waren Medizinprodukte, die beispielsweise in der Brandnarbenchirurgie benutzt werden. Inzwischen bedienen wir auch dem Homecare-Bereich. Und wir haben gemerkt, dass wir in die Byproducts-Schiene gehen sollten, weil wir im britischen Markt erlebt haben, dass man unseren Dermaroller zusammen mit den falschen Kosmetika verkauft hat. Wenn Sie Vitamin-A-haltige Produkte in die Dermis einschleusen, kann das beispielsweise zu schweren Rötungen und Hautabschälungen führen. Unsere Produkte zeichnet aus, dass sie mit wenigen Inhaltsstoffen auskommen und sich aus unseren klinischen Studien ergeben. Bei Vorträgen stelle ich gern die Frage, was das Teuerste im Bad ist …

Dermaroller entwickelt und vertreibt auch medizinischtechnische Geräte für die professionelle Anwendung
Dermaroller entwickelt und vertreibt auch medizinischtechnische Geräte für die professionelle Anwendung © Dermaroller | Dermaroller

Verraten Sie es uns!

Das Handtuch der Frau. Darin enden nämlich rund 80 Prozent der teuren Kosmetika (lacht).

Wie teilt sich heute Ihr Umsatz zwischen Medizin und Kosmetik auf?

Der Kosmetikanteil liegt mittlerweile weit vorn.

Was sind Ihre persönlichen Ziele?

Wir arbeiten mit einer neuen Struktur daran, mich im Operativen zu entlasten, damit ich in Zukunft mehr am und nicht im Unternehmen arbeite. Wir wollen zum Beispiel in die Schmerztherapie einsteigen, ein völlig neues Feld. Außerdem möchte ich mich um den Ausbau unserer Standorte kümmern – vor allem in den USA.

Sie haben anfangs betont, dass Sie nicht den klassischen akademischen Hintergrund haben. Macht Sie das zu einem anderen Chef?

Bestimmt. Ich habe ja kein Unternehmen aus der Familie geerbt, das ich jetzt mit zwei Beratern führe, sondern das hier ist alles selbst aufgebaut. Ich bin eher hands-on, laufe gern los, ohne wochenlang zu diskutieren. Das führt sicher zu Fehlern, aber es macht uns auch zu einem agilen Unternehmen …

… in dem Sie alle Mitch nennen?

Stimmt, hier und auch international kennt man mich so. Wenn jemand zu mir Herr Tomerius sagt, fühle ich mich oft gar nicht angesprochen (lacht).

Wir haben uns natürlich auch Ihren Instagram-Kanal angeschaut …

… Oh, Gott!

Dort haben Sie sich an einigen Stellen als Japan-Fan geoutet – mit einem Torii und auffallenden Tattoos …

Es gibt definitiv einen Asienfaible. Schon meine Urgroßmutter war in China und hat dort als Missionarin ein Waisenhaus betrieben. Ich selbst habe mich durch den traditionellen Kampfsport viel mit Asien und speziell Japan beschäftigt. Das ist eine Gesellschaft, die wie kaum eine andere werteorientiert und mit viel Rücksicht auf die anderen zusammenlebt. Das mit den Tattoos begann in meiner Sturm- und Drangphase – das nennt sich Horimono und erstreckt sich von den Knien über den Rücken, nur der Bauch bleibt frei. Dieser Tattoo-Anzug stammt aus der Kaiserzeit und ist durch die Yakuza etwas in die kriminelle Ecke gerückt worden. Später kann ich zumindest mal sagen, dass ich nur ein Tattoo habe (lacht).

Sturm- und Drangzeit – können Sie das konkretisieren?

Ich hatte in meiner Kindheit und Jugend mit Scheidung, Suchtkrankheit und Suizid zu tun. Man kann sich vielleicht vorstellen, dass das in einem jungen Menschen viel Unverständnis und auch Wut erzeugt. Über den Kampfsport wurde die ganz gut kanalisiert. Aber in den 80er-Jahren habe ich eine Zeitlang den Fußball auch mal etwas zu enthusiastisch unterstützt.

In der Dritten Halbzeit?

Wir hatten unsere Wettkämpfe samstags. Seit ich 14 war, habe ich Kampfsport betrieben, zwischendurch auch mal Kitesurfen, denn auch dort geht es um Demut und darum, sich und die eigenen Fähigkeiten einschätzen zu können. Dabei lernt man unheimlich viel über sich selbst.

Auf Ihrem Instagram-Kanal kann man sehen, dass Ihnen Zeit mit der Familie offensichtlich wichtig ist. Setzen Sie sich vor dem Hintergrund Ihrer eigenen Kindheit bewusst mit Ihrer Rolle als Vater auseinander?

Darüber denke ich viel nach. Mir ist wichtig, Aktivzeit mit meinen Kindern zu verbringen. Natürlich geht das aufgrund des Jobs nicht immer. Meine Tochter hat zum Start der Medica in Düsseldorf Geburtstag, als mein Sohn zuletzt 17 wurde, stand ich auf einer Messe in Paris.

Denken Sie an so etwas wie eine Familiennachfolge?

Nein, die beiden sollen machen, worauf sie Lust haben. Mein Sohn sagt häufiger, dass er nie so viel wie ich arbeiten möchte, und die Firma braucht Leute, die das Projekt mit Herzblut weiterführen wollen. Mein Ziel ist es, mich in den nächsten fünf Jahren auf den Shareholder-Bereich zurückzuziehen. Ob eins der Kinder irgendwann mal in der Holding sitzt, ist eine andere Frage.

Wenn Sie Sätze, wie die Ihres Sohnes hören … spüren Sie dann, dass das Unternehmertum auch einen Preis hat?

Das Schlimme ist, dass in der Regel ja nicht der Unternehmer den Preis zahlt, sondern die Familie. Wobei man immer auch das gesamte Paket betrachten sollte. Neulich kam mein Sohn nach einem internationalen Kampfsportevent zu mir und wollte einfach mal „Danke“ sagen. Ich fragte verwundert warum, und er erzählte, dass sie nach dem Workshop in einem japanischen Restaurant waren. Er konnte mit Stäbchen essen, sich fließend auf Englisch unterhalten und wusste, warum hinterm Sake ein Schälchen steht. Insofern gibt ein Unternehmerleben den Kindern wohl auch etwas mit …

Viele traditionelle Unternehmer bemühen gern das Bild vom Hanseatischen Kaufmann, wenn sie ihr Wertegerüst greifbar machen wollen. Auf der Straße spricht man von jemandem, der sich gerade macht. Was passt mehr zu Ihnen?

Straße passt schon ganz gut, auch wenn ich natürlich nicht in prekären Verhältnissen aufgewachsen bin. Das wäre das falsche Image. Aber ich musste mich streckenweise durchkämpfen – mit „gerade“ kann ich gut leben. Bei mir bekommt man, was man sieht. Ich bin niemand, der hinter dem Rücken der Leute über sie redet und nehme einen Fehdehandschuh auf, wenn ihn mir jemand hinwirft.