Berlin. Verspätungen, ausverkaufte Bistros, kaputte Toiletten: Das Zugpersonal muss den Ärger über das Chaos auffangen. Eine Liebeserklärung.

Neulich im ICE von Frankfurt nach Berlin. Am Bahnhof gibt es Chaos, Menschen drängeln, die Abfahrtszeit verstreicht. Es vergehen erst fünf, dann zehn, dann 20 Minuten, bis der Zugchef erklärt: „Mir müssä zwaa annere Züge mit Verspädyng vorlasse.“ Im Abteil freuen sich alle. „Das ist hessisch“, sagt einer laut. „Hauptsache, er versucht es nicht auf Englisch“, witzelt ein anderer. Der Zugchef verspricht, „das wer’re mir widder aufhole“.

Mir knurrt der Magen. Ich musste zum Bahnhof sprinten, da mein gebuchter Zug ausfallen wird, wie mir meine App mitgeteilt hatte, und ich den früheren erreichen wollte. Für einen Zwischenstopp beim Bäcker war keine Zeit. Die Vitrine im Bordbistro allerdings ist komplett leer, das Zugrestaurant hat den Betrieb ganz eingestellt. „Was haben Sie denn zu essen?“, frage ich angesichts der anstehenden fünf Stunden im Zug plus Verspätung. Ja, das sei nicht so einfach heute, sagt der Bordbistro-Mitarbeiter. Die Technik mal wieder.

Im Bordbistro gibt es nur Schokoriegel gegen meinen knurrenden Magen

Ich wundere mich, was die Technik mit fehlenden Vollkornbrötchen zu tun hat, die auf der Karte stehen. Die sind verschweißt in Folie, eiskalt im Biss und krustenlos. Der Bordbistro-Mensch sieht mir offenbar meine Verzweiflung im Gesicht an. „Wir werden schon was finden“, sagt er. Müsliriegel, schlägt er vor. Oder Schokolade. Er hält mir ein Twix vor die Nase. Ich nehme beides und ein alkoholfreies Bier, von dem ich mir erhoffe, dass es den Magen nachhaltig füllt.

Birgitta Stauber, Textchefin. In ihrer Frauengold-Kolumne schreibt sie über Frauen, Familie und Gesellschaft
Birgitta Stauber, Textchefin. In ihrer Frauengold-Kolumne schreibt sie über Frauen, Familie und Gesellschaft © Berlin | Reto Klar

Eine Frau mit Kleinkind an der Hand stürmt ins Bistro. „Die Toilettenspülung funktioniert nicht“, schreit sie. Unterdessen kommen wir in Hanau an. Der Zugchef jubelt die Durchsage: „Mir sin nur noch 19 Minute zu spät“. Der Bordbistro-Mitarbeiter rät der Frau, auf ein anderes Klo auszuweichen. Und wenn das auch defekt sei, was leider ab und zu vorkomme, „Dann gehe ich eben in die erste Klasse“, schreit die Frau. Als der Bordbistro-Mitarbeiter trotz ihrer schlechten Laune dem Kind eine Sammelfigur in die Hand drückt und ein Kinderheft, lächelt sie dann doch.

Zurück am Platz fällt mir ein, ich hätte ja nach dem Kindermenü fragen können. Vegane Pasta mit Getränk und Fruchtmus im bunten Karton. Die können ja nicht Kinder hungern lassen, überlege ich. Doch wenn eine Bockwurst nicht warmgemacht werden kann, dann wird das auch nichts mit der Pasta.

Interaktive Bahn-Karte: So ist Deutschlands Schienennetz geschrumpft

Auf- und Rückbau des deutschen Schienennetzes von 1835 bis heute
Auf- und Rückbau des deutschen Schienennetzes von 1835 bis heute © Interaktiv-Team

Das deutsche Schienennetz hat die besten Zeiten hinter sich. Mitte der 50er-Jahre war es noch 14.000 Kilometer länger als heute. Wo Züge rollen und wo es einmal Bahnverbindungen gab – Jahr für Jahr von 1835 bis heute.

Die Zugbegleiterin kommt mit einem Schwung voll guter Laune. Der erste Gast schimpft über die kaputten Toiletten. Die Zugbegleiterin lässt ihn ausreden. Sagt, sie verstehe seinen Ärger. Macht Mut. Lächelt ihn an. Ich denke, sie hätte ihm auch so eine Sammelfigur in die Hand drücken sollen. Vielleicht hätte er dann auch gelächelt wie die Frau eben im Bistro. Ein anderer schimpft über die Verspätung. Sorgt sich um den Anschluss. „Vielleicht schaffen wir es noch bis Hannover, ein paar Minuten aufzuholen.“ Wieder spricht sie von Glück.

Nur das Personal lächelt

Mein Glück ist das Twix und das Bier. Noch lieber wäre mir eins mit Alkohol. Wahnsinn, denke ich. Wie können die Zugbegleiter das aushalten? Ständig ist bei der Bahn alles kaputt, verspätet, überfüllt. Aggressive Kunden, volle Waggons, fehlende Reservierungsanzeigen. Hinzu kommen kaputte Weichen und Signale. Und wenn es nicht die Technik ist, dann ist es das Wetter: Laub, Wind, Regen, Schnee und Hitze.

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Seit geraumer Zeit erklären ja die Zugchefs recht launig, was und warum alles schiefläuft. Auf der Hinreise nach Frankfurt war es ein Raucher, der an den Bahnhöfen an der Waggontür stehend Nikotin inhalieren musste. Den ein- und aussteigenden Fahrgästen stand er im Weg. Als der Zugchef das über die Lautsprecher erklärte, gab es Gelächter, rege Diskussionen, die in allgemeines Lamentieren über das Bahnchaos übergingen. Kunden, die den Kopf schütteln, die das vielleicht sogar lustig finden, werden eben nicht so schnell aggressiv – das scheint wohl die Strategie dahinter zu sein.

Meine 84-jährige Mutter hat sich beim Chaos auf dem Bahnsteig das Knie verdreht

Meine Mutter übrigens, 84 und recht rege, fährt häufig Zug. Nach Zürich, zu meinem Bruder, und zu uns nach Berlin. Sie ist eine von den eher gut gelaunten Kundinnen. Auch wenn sich die Wagenreihung ändert, für sie der falsche Zugteil reserviert wurde und/oder der Zug vom anderen Gleis abfährt als angegeben. Treppe runter, Treppe rauf, „ganz schön mühsam“, gibt sie zu. Einmal wurde sie bei so einer Aktion auf der Rolltreppe beiseite geschubst. Dabei hat sie sich das Knie verdreht – ausgerechnet das rechte, das ohnehin immer schmerzt. Aber die Zugbegleiterinnen, sagte sie auch damals, seien ja ganz großartig. „So freundlich, so hilfsbereit“.

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Und dann haben sie auch noch Schichtdienst, denke ich im Zug von Frankfurt nach Berlin. Es ist 20 Uhr, wir kommen in Göttingen an. Bis Berlin wird es noch dauern. Der Zugchef meldet sich wieder. Wir sind in Niedersachsen, jetzt spricht er Hochdeutsch. „Liebe Fahrgäste, wir holen auf. Nur noch neun Minuten Verspätung.“

Was für ein Ehrgeiz. Was kriegen die dafür? Hoffentlich bald mehr Freizeit. Genau das ist es, wofür sie streiken. 35 Stunden bei vollem Lohnausgleich. Meine Unterstützung haben sie, denke ich bei der Einfahrt in den Berliner Hauptbahnhof. Übrigens auf die Minuten pünktlich.