Wolfsburg. Das Betriebsverfassungsgesetz soll überarbeitet und klarer werden. Experten in unserer Region fordern mehr Tempo und noch klarere Vorgaben.

Der Streit um die Angemessenheit von Betriebsratsvergütungen ist ein juristischer Dauerbrenner. Erst vergangene Woche gab es Durchsuchungen bei VW in Wolfsburg. Auch ein Urteil des Bundesgerichtshofs im vergangenen Januar brachte keine finale Sicherheit – im Gegenteil. Unternehmen wie VW kürzten nach dem Urteil Betriebsratsvergütungen aus Furcht, sich erneut dem Vorwurf der Untreue auszusetzen. Eine von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) berufene Experten-Kommission hat seit Mai Vorschläge für eine Reform des Betriebsverfassungsgesetzes ausgearbeitet, das den Rahmen für die Betriebsratsvergütung vorgibt.

Ausgelöst wurde die Diskussion um die Höhe der Betriebsratsgehälter durch die Vergütungspraxis bei VW. Beim Autobauer hatte der ehemalige Betriebsratschef Bernd Osterloh in der Spitze 750.000 Euro im Jahr verdient. Ermöglicht wurden die hohen Betriebsratsgehälter durch die bei VW praktizierte hypothetische Karriere, die auch von Arbeitsgerichten akzeptiert wird.

Streit um hypothetische Karriere

Soll heißen: Bei der Vergütung werden Weiterbildungen und Beförderungen berücksichtigt, die das Betriebsratsmitglied hätte absolvieren und erhalten können, wenn es nicht für die Arbeitnehmervertretung tätig gewesen wäre. Osterloh etwa war der Posten des Personalvorstands angeboten worden, den er ablehnte.

Eine hypothetische Karriere ist bislang im Betriebsverfassungsgesetz nicht vorgesehen. Stattdessen müsse sich die Vergütung eines Betriebsratsmitglieds an dem Gehalt orientieren, das er oder sie zuletzt vor dem Wechsel in die Arbeitnehmervertretung erhielt. Die künftige Gehaltsentwicklung orientiert sich an einer Vergleichsgruppe, die dasselbe Gehalt erhielt wie der Arbeitnehmervertreter zum Zeitpunkt seines Wechsels.

Bundesgerichtshof kassierte Braunschweiger Urteil

In einem Strafprozess vor dem Landgericht Braunschweig mussten sich vier zum Teil ehemalige VW-Personalverantwortliche wegen des Verdachts der Untreue verantworten. Sie sollen verantwortlich gewesen sein für zu hohe Betriebsratsvergütungen. Zwar wurden sie freigesprochen, doch kassierte der Bundesgerichtshof das Urteil im Januar dieses Jahres und wies das Argument der hypothetischen Karriere zurück.

Daher kürzte etwa VW die Bezüge von Betriebsratsmitgliedern. Seitdem laufen vor verschiedenen Arbeitsgerichten Verfahren, in denen sich von den Kürzungen betroffene Betriebsräte gegen die Gehaltseinschränkungen wehren. Bisher meist mit Erfolg.

Kommission erarbeitete Vorschläge

Der von Arbeitsminister Heil berufenen Experten-Kommission gehören Rainer Schlegel, Präsident des Bundessozialgerichts, die frühere Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts, Ingrid Schmidt, sowie Gregor Thüsing, Direktor des Instituts für Arbeitsrecht und Recht der sozialen Sicherheit der Universität Bonn, an. Die Kommission hält am Prinzip der ehrenamtlichen Tätigkeit von Betriebsratsmitgliedern fest und empfiehlt einen kritischen Umgang mit der hypothetischen Karriere.

Wie aus den Vorschlägen der Kommission hervorgeht, soll ein Betriebsrat künftig belegen, dass eine Bewerbung auf eine besser bezahlte Stelle im Unternehmen erfolglos geblieben ist, eben weil er oder sie in der Arbeitnehmervertretung tätig ist. Oder es muss belegt werden, dass eine Bewerbung eben wegen der Tätigkeit im Betriebsrat nicht erfolgt ist, aber erfolgreich gewesen wäre. Ganz wichtig aus Sicht der Kommission: Es müsse immer um die Besetzung einer konkreten Stelle gehen.

Die in der Vergangenheit von Arbeitnehmervertretern vorgebrachte Argumentation, sie würden mit dem Management auf Augenhöhe verhandeln, komplexe Aufgaben übernehmen und seien in unternehmerische Entscheidungen eingebunden, lässt die Kommission nicht gelten.

Betriebsvereinbarung soll für Transparenz sorgen

Um im Unternehmen für mehr Transparenz zu sorgen, empfiehlt die Kommission den Abschluss von Betriebsvereinbarungen. Sie sollen ein Verfahren zur Festlegung vergleichbarer Arbeitnehmer regeln, also die bereits erwähnte Vergleichsgruppe bestimmen. Dabei soll sich die Vereinbarung am Bundesarbeitsgericht orientieren. Demnach wird die Vergleichsgruppe zum Zeitpunkt des Amtsbeginns eines Betriebsratsmitglieds gebildet.

Professor Horst Call, Experte für Arbeitsrecht an der Ostfalia-Hochschule, erkennt in den Vorschlägen der Kommission Licht und Schatten. So sei es zu begrüßen, dass ausdrücklich die Ehrenamtlichkeit der Betriebsratstätigkeit betont wird. Denn dieses Prinzip soll Arbeitnehmervertreter vor Einflussnahme und Käuflichkeit der Arbeitgeber schützen. Positiv bewertet er auch den Ansatz der Betriebsvereinbarungen, über das Verfahren zur Festlegung vergleichbarer Arbeitnehmer. Dazu gebe es bereits oft schon
informelle Absprachen in Unternehmen, um eine einheitliche Verfahrensweise zu gewährleisten.

Experte: Hohe Missbrauchsmöglichkeit

Dagegen sieht er Schwachstellen, wenn es um Beförderungen und Besetzungen im Unternehmen geht, die mit Einkommenssteigerungen verbunden sind. So heißt es in dem Entwurf der Kommission: „Dabei kann es sachlich gerechtfertigt sein, bei einer solchen Stellenbesetzung auch die durch und während der Amtstätigkeit erworbenen Kenntnisse, Fähigkeiten und Qualifikationen zu berücksichtigen, soweit sie im Unternehmen auch außerhalb des Betriebsratsamts für die jeweilige Stelle karriere- und vergütungsrelevant sind.“

Call ist überzeugt, dass diese Zuschreibung von Fähigkeiten und Kenntnissen, zum Beispiel in Personalangelegenheiten, auf viele langjährige Betriebsratsmitglieder zutreffen würde, so dass viele für eine hohe Stelle im Personalwesen in Betracht gezogen werden könnten. Auf diese Weise ließe sich die Vergütung vieler langjähriger Betriebsratsmitglieder ohne Probleme auf das Niveau hochrangiger Mitarbeiter des Personalwesens steigern. „Dadurch würde eine hohe Missbrauchsmöglichkeit entstehen, auf die Vergütungsebene einer Führungskraft zu kommen“, sagte er.

Arbeitgeber wollen Gesetzesnovelle

Lars Alt, Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbands Region Braunschweig, sagte unserer Zeitung: „Die Unternehmen befinden sich aktuell in einer Zwickmühle: Sind sie bei der Vergütung ihrer Betriebsräte zu großzügig, machen sie sich womöglich strafbar. Zahlen sie zu wenig, landen sie vor dem Arbeitsgericht.“ Daher sei es „zwingend erforderlich“, mehr Rechtssicherheit bei der Betriebsratsvergütung zu schaffen.

Alt: „Das Thema muss aus den Gerichtssälen in den Plenarsaal wandern. Dafür hat die von Hubertus Heil eingesetzte Experten-Kommission respektable Vorschläge unterbreitet.“ Der Arbeitgeberverband erwarte von der Ampel-Koalition in Berlin eine Gesetzesnovelle, die maßlose Vergütungen der Vergangenheit ausschließt und Betriebsräten gleichzeitig nicht alle Entwicklungschancen verbaut.

Alt fordert: „Die Vergütung von Betriebsräten muss sich beispielsweise stärker an Arbeitnehmern mit vergleichbaren Qualifikationsniveaus orientieren. Für die Mitbestimmung und die Interessenvertretung der Arbeitnehmer sind unabhängige und versierte Betriebsräte von zentraler Bedeutung.“ Dies wird aus Sicht des Arbeitgeberverbands am ehesten über das gesetzlich verankerte Ehrenamtsprinzip verwirklicht, wonach Betriebsräte auf Grund ihrer Tätigkeit weder benachteiligt noch begünstigt werden dürfen.

DGB legte eigene Vorschläge vor

Michael Kleber, Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) in Südost-Niedersachsen, würde eine verbesserte Rechtssicherheit in Sachen Betriebsratsvergütung begrüßen. Der DGB habe bereits im April des vergangenen Jahres eigene Vorschläge für ein modernisiertes Betriebsverfassungsgesetz vorgelegt. Sie sehen vor, bei der Bemessung der Vergütung und der allgemeinen Zuwendungen die als Betriebsrat erworbenen Qualifikationen, Erfahrungen und Aufgaben zu berücksichtigen.

Kleber: „Der Vorschlag der Kommission setzt dagegen auf eine Kann-Regelung: Es kann in einer Betriebsvereinbarung ein Verfahren zur Festlegung vergleichbarer Arbeitnehmer geregelt werden. Ob dies zu mehr Rechtssicherheit führt, muss die betriebliche Praxis zeigen.“

Große Spreizung juristischer Einschätzungen

Dass der Handlungsdruck zur gesetzlichen Präzisierung der Betriebsratsvergütungen groß ist, zeigen die jüngsten Urteile verschiedener Arbeitsgerichte. Sie befassen sich mit Klagen von VW-Betriebsratsmitgliedern, die sich gegen die Gehaltskürzungen wehren. So entschieden die Arbeitsgerichte Hannover und Kassel nach Angaben des VW-Betriebsrats in zwei Fällen, dass die Kürzungen nicht nur falsch sind, sondern die Kläger sogar noch mehr verdienen müssten als bisher. Die Spreizung der juristischen Einschätzungen wird also immer größer.

Das Bundesarbeitsministerium mochte sich auf Anfrage unserer Zeitung nicht zum konkreten zeitlichen Fortgang der Empfehlungen der Experten-Kommission äußern. Aus Berlin hieß es dazu: „Die Koalitionspartner sowie die Sozialpartner haben jetzt die Gelegenheit, sich die Vorschläge anzuschauen und zu bewerten.“