München/Berlin. Siemens kann sich zwar über satte Gewinne freuen. Doch die klassische Kraftwerkssparte schwächelt. Das führt zur nächsten Sparrunde.

In der Münchener Siemens-Zentrale versucht Konzernchef Joe Kaeser an diesem Donnerstagmorgen den Spagat: einerseits wirklich gute Zahlen für das abgelaufene Geschäftsjahr verkünden, andererseits die geplanten harten Einschnitte in zwei der acht Konzernsparten rechtfertigen – vor allem in der Kraftwerkssparte. Bei Siemens zeigt sich derzeit geradezu beispielhaft der tief greifende Strukturwandel der Industrie – klassische Produkte sind weniger gefragt, das Digitale boomt.

So redet Kaeser mit seiner sonoren Stimme lange über den Vorsprung des Konzerns bei der industriellen Digitalisierung, das satte Umsatzplus von 25 Prozent auf 5,2 Milliarden Euro mit Software und digitalen Dienstleistungen. Dass nur Siemens alle Abläufe „von der Idee für ein Produkt über die Fertigung bis zum Service ganzheitlich als ‚digitalen Zwilling‘ virtuell abbilden“ könne – also eine echte digitale Fabrik anbieten kann. Dass Siemens schon heute zu den zehn größten Software-Unternehmen der Welt gehöre.

Am 16. November will Siemens Klartext sprechen

Kaeser erwähnt noch den Aktienkurs des Unternehmens, der sich in seiner Amtszeit bis zum Bilanzstichtag am 30. September 2017 um mehr als 50 Prozent erhöht hat. Und davon, dass Siemens in einer Umfrage des US-Wirtschaftsmagazins „Forbes“ das Unternehmen mit der höchsten Reputation weltweit sei. Zur Auswahl standen 2000 Firmen.

Draußen vor der Siemens-Zentrale demonstrieren derweil zahlreiche Mitarbeiter des Konzerns. Sie arbeiten unter anderem in der Kraftwerkssparte, einer jener Teile, die den Konzern groß gemacht haben, jetzt aber schwächeln. Sie erwarten Klarheit darüber, wie es weitergeht. Immerhin gibt es jetzt ein Datum: Am 16. November will Kaeser ein Konzept vorlegen und erklären, was sich wirklich hinter den von ihm angekündigten „tiefen Einschnitten“ verbirgt. Betroffen ist auch der Fertigungsstandort Berlin, der größte im Konzern.

Auftragsrückgang bei Gasturbinen

„Power & Gas“, so heißt die Siemens-Sparte, kämpfe seit Längeren mit „einem schwierigen Markt“ und „gewaltigen Verschiebungen“, sagt Kaeser. Wegen der wachsenden Bedeutung von erneuerbaren Energien rechnet er damit, dass es weltweit nur noch einen jährlichen Bedarf von 100 bis 120 großen Gasturbinen geben werde. Vor einigen Jahren seien es noch 400 gewesen.

In Deutschland seien in den vergangenen drei Jahren insgesamt nur zwei Turbinen bestellt worden, sagt Kaeser, um zu verdeutlichen, wie wenig das Geschäft unter anderem wegen der Energiewende im Inland läuft. Beide Turbinen sollen übrigens in Berlin eingesetzt werden. „Das ist nicht nur ein Siemens-Thema“, betont der Konzernchef im Hinblick auf die Konkurrenz, die ebenfalls über Auftragsrückgänge klagt.

Defizitäre Sparten sollen nicht subventioniert werden

Wie die Kraftwerkssparte noch dasteht, zeigen die Zahlen, die Finanzchef Ralf Thomas präsentiert: Im Geschäftsjahr 2016/17 brach der Auftragseingang zwar um 31 Prozent ein. Mit Power & Gas machte Siemens aber immer noch 15,5 Milliarden Euro Umsatz und kam auf eine Ergebnismarge von 10,3 Prozent. Gefordert sind allerdings elf bis 15 Prozent. Thomas geht davon aus, dass sich die Lage bei Power & Gas im kommenden Jahr deutlich verschlechtern wird. Zudem hat er bereits erhebliche Kosten für einen Personalabbau eingeplant.

Sehr viel klarer als ihre beiden männlichen Vorstandskollegen äußert sich Personalchefin Janina Kugel. „Defizitäre Geschäfte auf Dauer zu subventionieren, würde uns schaden. Wir prüfen alle Optionen.“ Die Worte „Werkschließungen“ und „Kündigungen“ sagt sie nicht ausdrücklich, hat diese aber im Sinn, als sie auf den „Pakt von Radolfzell“ zu sprechen kommt.

Kündigungen trotz Pakt mit Gewerkschaft möglich

Das Regelwerk hat Siemens 2008 mit dem Betriebsrat und der Gewerkschaft IG Metall ausgehandelt. Darin steht: „Es werden keine Standorte geschlossen oder verlagert.“ Und: „Betriebsbedingte Kündigungen werden nicht ausgesprochen.“ Der Pakt enthält aber auch Klauseln, auf die sich Kugel jetzt beruft. Erreiche ein Standort eine „kritische Größe“, müssten alternative Beschäftigungsmöglichkeiten angeboten werden, heißt es in dem Papier. Und: Kündigungen seien möglich, wenn sie „einvernehmlich zwischen Firmenleitung, Gesamtbetriebsrat und IG Metall“ beschlossen werden.

Die Gespräche mit der Arbeitnehmerseite will Personalchefin Kugel nach der Präsentation ihrer Abbaupläne am 16. November im Wirtschaftsausschuss des Konzerns „so zeitnah wie möglich“ führen, wie sie sagt. Den Plänen könnten bis zu 4000 Stellen zum Opfer fallen. Es geht dabei nicht nur um die Kraftwerkssparte, auch die schwächelnde Sparte „Process Industries and Drives“, die unter anderem Dynamos und Antriebe herstellt, ist betroffen. Im Berliner Dynamowerk arbeiten 800 Beschäftigte, im Gasturbinenwerk 3500. Mehrere Hundert Stellen sind gefährdet.

Siemens muss sich 2018 neu strukturieren

Die Gewerkschaft IG Metall warf Siemens vor, dem Abwärtstrend so lange zugesehen zu haben, bis Kündigungen unvermeidbar waren. „Es ist nicht nachzuvollziehen, auf der einen Seite Milliardengewinne zu erwirtschaften, auf der anderen aber Tausende Beschäftigte in eine ungewisse Zukunft entlassen zu wollen“, sagte IG-Metall-Bezirksleiter Jürgen Wechsler.

Auch an anderer Stelle ist Siemens 2018 eine Großbaustelle. Bei der Windenergiesparte Siemens-Gamesa sollen 6000 Stellen wegfallen. Und die Bahnsparte wird mit dem Konkurrenten
Alstom zur – von Siemens dominierten – neuen Nummer eins in Europa und Nummer zwei weltweit fusioniert. Zudem ist der Börsengang der Gesundheitssparte geplant.

Siemens’ Gewinn stieg um elf Prozent

Im abgelaufenen Geschäftsjahr 2016/17 setzte Siemens 83 Milliarden Euro um, vier Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Der Gewinn stieg um elf Prozent auf 6,2 Milliarden Euro. Ende September lagen Aufträge im Volumen von 126 Milliarden Euro vor. Kaeser schlägt eine Dividende von 3,70 Euro je Aktie vor, zehn Cent mehr als im vergangenen Jahr.