Brüssel. Im Abgas-Skandal geht die EU-Kommission gegen Deutschland wegen mangelnder Aufklärung vor. Deutschland hätte Volkswagen bestrafen müssen.

Die EU-Kommission verschärft die Gangart bei der Aufarbeitung des VW-Skandals. Ein Jahr nach Bekanntwerden der Manipulationen bei den Abgasgrenzwerten von Dieselautos hat Brüssel gegen Deutschland und sechs weitere EU-Staaten ein förmliches Verfahren eingeleitet. Der Vorwurf von Industriekommissarin Elzbieta Bienkowska: Die Regierungen und die zuständigen nationalen Aufsichtsstellen hätten nicht dafür gesorgt, dass VW und andere Hersteller die europäischen Vorschriften zur Entgiftung der Abgase auch einhalten.

Zwar seien für die Beachtung der Vorschriften in erster Linie die Firmen selbst verantwortlich, erklärte die polnische Kommissarin, die in Brüssel auch für den Binnenmarkt zuständig ist. „Die nationalen Behörden in der EU müssen jedoch darüber wachen, dass die Automobilhersteller die Rechtsvorschriften auch tatsächlich einhalten.“ Neben den Deutschen bekommen die Briten, Spanier, Griechen, Litauer, Luxemburger und Tschechen eine Abmahnung aus Brüssel. Allen werden Verstöße gegen die Binnenmarkt-Regeln für die Typenzulassung vorgeworfen.

Bienkowska macht Drohung wahr

Bienkowska macht damit eine Drohung wahr, die sie schon vor Monaten für den Fall ausgesprochen hatte, dass die Mitgliedstaaten nicht energisch genug gegen die im Zuge des Skandals aufgeflogenen Praktiken vorgehen. Im Zentrum stehen dabei Abschalt-Einrichtungen (defeat devices), mit denen die Entgiftungstechnik zwar unter Laborbedingungen funktioniert, im normalen Straßenbetrieb aber deaktiviert wird. Der VW-Konzern hat als einziger Hersteller in diesem Zusammenhang Rechtsverstöße zugegeben. Die anderen Produzenten stellen sich auf den Standpunkt, die Abschalt-Technik in ihren Fahrzeugen sei durch geltendes Recht gedeckt.

Die Deutschen haben nach den Feststellungen der Brüsseler Fachabteilung weder bei der Ahndung noch bei der Aufklärung den gebotenen Eifer an den Tag gelegt. Das bezieht sich auf zwei EU-Gesetze, in denen zum einen die EU-weite Typengenehmigung – die Zulassung neuer Modelle im Binnenmarkt – und zum anderen die Abgasentgiftung nach den Normen Euro 5 und Euro 6 geregelt ist. Nach diesen Vorschriften aus dem Jahr 2007 ist es nicht damit getan, dass nationale Behörden wie das deutsche Kraftfahrtbundesamt überprüfen, ob ein neues Modell den Vorschriften entspricht, bevor es auf den Markt kommt.

Aufdeckung des „Dieselgate“-Skandals

Sie müssen sich auch darum kümmern und gegebenenfalls Strafen verhängen, wenn ein Hersteller anschließend die Anforderungen missachtet. Deutschland, Spanien, Großbritannien und Luxemburg – die Länder, die Typgenehmigungen für Volkswagen-Modelle erteilt haben – zeigten sich laut Kommission hingegen zu nachsichtig: Sie verzichteten darauf, die vorgesehenen Strafen auch zu verhängen. Tschechien, Litauen und Griechenland hätten entsprechende Sanktionen gar nicht erst in ihrem nationalen Recht verankert.

Gegen Deutschland und Großbritannien erhebt die Kommission zudem den Vorwurf, nach Aufdeckung des „Dieselgate“-Skandals zu mauern. Die US-Umweltbehörde EPA hatte ermittelt, dass VW Schummel-Software einsetzt und die vorgeschriebenen Stickstoff-Grenzwerte im Normalbetrieb weit überschreitet. Brüssel hatte die Mitgliedstaaten daraufhin aufgefordert zu untersuchen, ob bei ihnen ansässige Hersteller ebenfalls verbotene Abschalt-Einrichtungen einbauen.

Nachrüstung in der Werkstatt

Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt hatte dazu im April einen detaillierten Bericht vorgelegt, wonach die gezielte Täuschung bei VW ein Einzelfall sei. Der Dobrindt-Bericht und ein zweiter, von Großbritannien eingereichter liegen derzeit zur Prüfung in Brüssel. Beide Länder haben sich aber nach Darstellung der Kommission „geweigert, alle in ihren nationalen Untersuchungen gesammelten Informationen offenzulegen“.

Das Bundesverkehrsministerium wies den Vorwurf der EU-Kommission zurück. 2,4 Millionen VW-Fahrzeuge und 630.000 Autos anderer Hersteller würden zur Nachrüstung in die Werkstatt gerufen. „Das ist im Sinne des Kunden die zielführende Lösung“, erklärte ein Sprecher. Die Bundesregierung hat nun zwei Monate Zeit für eine Antwort an die EU-Kommission. Wenn der Mangel nicht abgestellt wird, zieht die Kommission vors EU-Gericht in Luxemburg. Das kann bei einer Verurteilung Buß- und Zwangsgelder verhängen.

Umweltverbände begrüßen Verfahren

Umweltverbände begrüßten das Verfahren. „Durch das EU-Verfahren wird deutlich, dass Deutschland nach wie vor gegen geltendes Recht verstößt“, sagte Jürgen Resch, Geschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe unserer Redaktion. „Die Politik hat hier komplett versagt“, sagte Resch. „Die Bundesregierung wird durch die Interessen der Automobilindustrie ferngesteuert.“ Auf Deutschland kämen nun hohe Millionenstrafen zu, meint Resch. „Denn dieses Einknicken vor der Industrie ist ganz offensichtlich.“

Bislang habe Bundesverkehrsminister Dobrindt keinen substanziellen Beitrag zur Bewältigung des Abgasskandals geleistet, kritisierte Oliver Krischer, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Grünen im Bundestag. „Statt Transparenz und Aufklärung zu betreiben, will er am bisherigen System von Lug und Trug nichts grundlegend ändern.“ Dobrindt müsse endlich aufklären. „Wenn er dies nicht tut, schadet er der gesamten Autobranche.“