Braunschweig. Wie es sich anfühlt, wenn staatliche Behörden Bürger online ausspähen, zeigt das Computerspiel Orwell. Ein Selbstversuch...

Es ist der 13. April 2017. Eine Bombe explodiert auf dem Freedom-Plaza in Bonton. Staub, Chaos, drei Leichen. Mein Job? Im Computerspiel Orwell soll ich den nächsten Anschlag verhindern, die Terroristen ausfindig machen.

Also durchsuche ich Foren, Polizeiberichte, Social-Media-Accounts, lese mich durch Chats, höre Telefonate mit. Die Nation hat mich beauftragt. Schon einmal vorne weg: Ich werde daran scheitern. Die Nation, „the nation“ im englischsprachigen Spiel, ist ein fiktiver und totalitärer Staat, der die Migration gestoppt hat, sich im Krieg befindet, der Sicherheit über Freiheit gestellt hat. Orwell heißt auch das geheime Überwachungsprogramm, das ich nutze. Orwell, wie der Name des Spiels und wie George Orwell, der Autor des Buches 1984 über einen totalitären Überwachungsstaat.

„Der Spieler hat gute Absichten, aber schlechte Methoden“
„Der Spieler hat gute Absichten, aber schlechte Methoden“ © Daniel Marx, Game-Designer des Spiels Orwell

So beobachte ich Cassandra, sie ist meine erste Verdächtige. Ich lese, was sie ihrem Freund in Chats schreibt. Kurz vor dem Anschlag ist sie über den Platz gelaufen, sie ist vorbestraft und so verdächtig. Einzelne Sätze suche ich aus den fiktiven Protokollen und Webseiten auf der rechten Bildschirmhälfte heraus und ziehe sie per Drag and Drop in die Formulare des Spähprogramms auf der linken Seite. Nur die Informationen, die ich in die Akten einspeise, kennt das Spähprogramm – nimmt aber diese auch für bare Münze. Immer wieder schaltet mir die Nation neue Überwachungsmöglichkeiten frei.

Ich beobachte alle – und mich selbst dabei auch

Was tue ich da? Mit ein paar Sätzen habe ich Cassandra ins Gefängnis gebracht. Es waren nicht meine Sätze. Es waren ihre, manche davon lässig hingeworfen in einem Chat, nicht wissend, dass sie beobachtet wird. Als sie sich gegenüber einer Freundin über das System aufregt, werte ich das als Widerstand gegenüber der Nation. Dass sie Stimmungsaufheller-Tabletten nimmt, werte ich als Zeichen der Instabilität, drücke ihr immer kräftiger den Stempel der Terroristin auf.

Beim Spielen gibt es für mich irgendwann aber kein Richtig mehr. Nur noch Falsch. Ich beobachte mich bei jeder Entscheidung. Kann man bei Orwell überhaupt alles richtig machen? Anruf bei der kleinen Hamburger Produktionsfirma, Osmotic Studios. „Der Spieler hat gute Absichten, aber schlechte Methoden“, sagt Daniel Marx. Er ist der Game-Designer im Entwickler-Trio. Und: Es gebe kein Gameover, keine Möglichkeit zu verlieren. Allerdings gibt es unterschiedliche Szenarien und Abschluss-Sequenzen. Ob ich also Anschläge verhindere, den Überwachungsstaat unterwandere oder ob ich Unschuldigen das Leben ruiniere, hängt letztendlich von mir ab.

Es ist ja nur ein Spiel, sage ich mir, schiebe mein moralisches Dilemma mit jedem eingespeisten Satz weiter von mir. Es soll ja auch voran gehen. Ich schaue mir die Handyfotos eines Verdächtigen an. Ach, das ist seine Ehefrau?

Ich habe nie den gesamten Überblick. „Der Spieler sieht nie das ganze Bild, immer nur Teile des digitalen Lebens der Personen“, sagt Marx. Danach sei auch die Ästhetik der Grafik ausgewählt worden. Aus dem Dreidimensionalen ergeben sich zweidimensionale Bruchstücke. „Als würde man durch Milchglas schauen.“ Oder durch ein Prisma?

Wer nähert sich wem an?

Die Fiktion der Realität?

Immer wieder verweben sich Realität und Spiel. Während ich spiele, brummelt mein Handy. In der Realität: Schlagzeilen wandern per Push-Nachricht auf das Display. Die Bank schickt mir eine Mail auf mein Handy. Im Spiel: Ich klicke mich durch das Konto eines Verdächtigen. Freunde schreiben mir in der Realität per Whatsapp, während ich im Siel Chats von Unterhaltungen lese.
Die Szenarien von Orwell spielen sich in der unmittelbaren Zukunft ab. Aber ist die Fiktion auch so nah an unserem Leben? Wer zum Beispiel in die USA einreisen will, kann beim Anmeldeverfahren, an dem sich auch Deutsche beteiligen müssen, die eigenen Kontaktdaten zu den Sozialen Medien angeben – bislang freiwillig. Trump-Berater Stephen Miller diskutierte im Januar beim Nachrichtensender CNN die Möglichkeit, in den USA nicht nur die Social-Media-Accounts von Einreisenden zu durchleuchten, sondern auch die Listen der besuchten Webseite. „Es ist erschreckend, wie aktuell das Spiel ist“, sagt Marx. Da wäre ja auch noch Prism, das Spionage-Programm des amerikanischen Auslandsgeheimdienstes NSA, das durch die Snowden-Leaks 2013 öffentlich wurde. Mit der Diskussion um Prism sei dem Team die Idee zum Spiel gekommen.

Im Spiel habe ich ein Netz von Verdächtigen gesponnen. Irgendjemand davon hat etwas gemacht – aber wer? Es hat eine zweite Explosion gegeben, weitere Tote. Ich konnte keine Gewalt verhindern, aber das System unterwandern? Auch das habe ich nicht geschafft. Am Ende war ich selbst verdächtig. Auch wenn man das Spiel nicht verlieren kann, so bin ich doch gescheitert.