Berlin. Ein Herzchirurg behauptet: Für Verkalkungen in den Gefäßen sind nicht Blutfette, also Cholesterin, verantwortlich, sondern Infektionen.

Axel Haverich ahnt, dass er in diesen Tagen viele Diskussionen unter den Kollegen seines Fachs auslösen wird. Der Herzchirurg und Leiter der Herzklinik an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) hat eine über Jahrzehnte bestehende Lehrmeinung zur Entstehung von Arteriosklerose infrage gestellt. Er hat sie im wahrsten Sinne des Wortes von innen nach außen gekehrt.

Medien schrieben wahlweise von einer „Revolution“ oder „Sensation“. Bislang gehen Wissenschaftler davon aus, dass die sogenannte Gefäßverkalkung besonders durch Blutfette verursacht wird. Sie bilden die typischen Ablagerungen (Plaques) an der Innenwand der Arterien. Haverich ist zu einem anderen Ergebnis gekommen. Er fasst es so zusammen: „Die Fettablagerungen kommen nicht aus dem Blut, sondern sind Überreste durch Infektionen abgestorbener Zellen der Gefäßwand.“

Folge ist ein Herzinfarkt

Fünf Jahre lang hat er Belege zusammengetragen und seine Überlegungen nun im medizinischen Fachmagazin „Circulation“ veröffentlicht. Vereinfacht gesagt ist die Lehrmeinung bislang folgende: Plaques entstehen unter anderem infolge von zu hohen Blutfettwerten, dem Cholesterin. Sie lagern sich an der Innenwand der Arterien ab, verengen sie. Und wenn ein Plaque im schlimmsten Fall aufbricht, verschließt es zum Beispiel ein Herzkranzgefäß.

Die Folge ist ein Herzinfarkt, an dem im Jahr 2015 in Deutschland rund 51.000 Menschen starben. Begünstigt wird die Entstehung von Plaques durch Bewegungsmangel, Rauchen, Stress, Veranlagung und eine ungesunde Ernährung. Die Theorie von Axel Haverich dagegen konzentriert sich nun auf die Außenwand der Arterien als Ursprung für die Arteriosklerose. Genau genommen auf kleine Blutgefäße, die sogenannten Vasa vasorum.

Tierversuche an Schweinen

Sie versorgen die Gefäßwand der Arterien mit Sauerstoff und Nährstoffen. „Verschließen sich diese Versorgungsgefäße durch Entzündungsreaktionen, sterben Zellen in der Arterienwand ab – denn sie sind unterversorgt“, erklärt der Herzchirurg. Die abgestorbenen Zellen inklusive der Fettreste werden dann vom Immunsystem abgebaut, dabei entstehen Zellabfälle – Plaques, die sich schließlich auch an der Innenwand ablagern.

„Schon in früheren Tierversuchen an Schweinen und Kaninchen konnten Forscher zeigen, dass durch das Abklemmen der Vasa vasorum bei den Tieren eine Arteriosklerose ausgelöst werden konnte“, erzählt Haverich von seiner Recherche in der wissenschaftlichen Literatur, die zum Teil mehr als hundert Jahre zurückreichte. Als Ursache für das Absterben der Vasa vasorum nennt Haverich Viren, Bakterien oder Feinstaub. Aber auch das LDL-Cholesterin.

Einfallstor für Viren

Die Überlegung, dass Bakterien oder Viren an einer Arteriosklerose beteiligt sind, sei nicht ganz neu, sagt Heribert Schunkert vom Deutschen Herzzentrum in München. Hintergrund sei, dass Wissenschaftler Bestandteile von Erregern in den Plaques nachweisen konnten. „Es ist aber die Frage nach Henne oder Ei“, sagt Schunkert, der auch im wissenschaftlichen Beirat der Deutschen Herzstiftung sitzt.

„Sind Bakterien und Viren der Grund für die Ablagerungen oder ist vielleicht die durch eine bestehende Arteriosklerose angegriffene Gefäßwand ein Einfallstor für Viren und Bakterien?“ Er warnt davor, die Lehrmeinung jetzt einfach über den Haufen zu werfen. „Die Hypothese des Kollegen ist interessant. Sie steht aber nicht in direktem Widerspruch zu dem, was wir wissen.“ Außerdem müssten die Theorien noch mit Studien belegt werden.

Entweder-oder-Ursache

Seine Theorie, sagt Haverich, könne seiner Meinung nach nicht gleichwertig neben der bestehenden Lehrmeinung stehen, also als Entweder-oder-Ursache. „Ich bin ehrlich gesagt überzeugt, dass der weit überwiegende Teil der Arteriosklerosen durch Versorgungsstörungen der Arterienwand ausgelöst wird“, sagt er. Ins Zweifeln kam Haverich während seiner Arbeit im Operationssaal. Tausende Herzen hatte er operiert, Bypässe gelegt.

Dabei beobachtete er, dass nur bestimmte Bereiche der Herzkranzgefäße verkalkt waren, während andere Abschnitte desselben Gefäßes niemals betroffen waren. Oder auch ganze Körperregionen, wie etwa die im Oberschenkel gelegene Arteria femoralis. „Das widerspricht erstens der Annahme, dass die Krankheit im Inneren der Arterie beginnt und zweitens der Vorstellung einer systemischen Erkrankung“, erklärt Haverich.

Andauernde Luftverschmutzung

Außerdem, so erzählt er, ließ ihn die Entdeckung neuer Risikofaktoren für Arteriosklerose aufmerken. Etwa ein Zusammenhang zwischen Grippe-Epidemien und einer erhöhten Herzinfarktrate. Oder die anerkannte Tatsache, dass eine andauernde Luftverschmutzung den Prozess einer Arteriosklerose beschleunigt. „Das lässt sich mit der bisherigen Theorie der erhöhten Blutfette allein nicht erklären“, sagt Haverich.

Dass Arteriosklerose eine multikausale Erkrankung sei, habe man allerdings längst begriffen, ergänzt Schunkert kritisch diese Überlegungen. Ob neben der Innen- auch die Außenwand der Ort ist, wo die Arteriosklerose ihren Anfang nimmt, muss weitere Forschung zeigen. Wenn sich die Überlegungen Haverichs als richtig erweisen, müssen vielleicht Lehrbücher neu geschrieben werden.

Gesunde Ernährung

Die Konsequenz für die Menschen bleibt für den Augenblick gleich: Gesunde Ernährung, ausreichend Schlaf und Bewegung und auch die Vorbeugung und Behandlung von Infektionen etwa durch Grippeschutzimpfungen sind der Schlüssel zu gesunden Arterien.

Auch der Nutzen einer medikamentösen Behandlung von hohem Cholesterin, Bluthochdruck, Diabetes sowie die Wirksamkeit von Plättchenhemmern bei Vorliegen einer Gefäßerkrankung wird durch diese Hypothese nicht infrage gestellt. In dem Punkt sind sich Axel Haverich und Heribert Schunkert einig.