Berlin. Mit 29 Jahren hat es Lars Stindl in die Nationalmannschaft geschafft. Im Interview spricht der Angreifer über seinen Weg und den Videobeweis.

„Das Stue“ ist ein feines Boutiquehotel im Botschaftsviertel in Berlin. Stue kommt aus dem Dänischen, übersetzt heißt es Wohnzimmer. Ein Ort eben, in dem man sich wohlfühlen soll. Das wäre ein plausibler Grund für die prächtige Laune von Joachim Löw, als er die weiße Treppe hinunterspaziert, in die Runde schaut und die WAZ-Redakteure nach dem Grund Ihrer Anwesenheit befragt. Natürlich verraten wir es dem Bundestrainer. „Wegen eines Interviews.“ Löw wird neugierig und fragt. „Mit wem denn?“ Wir antworten: „Mit Lars Stindl“ und haken frech nach: „Wie finden Sie ihn?“ Der Bundestrainer lächelt. „Gut. Sehr gut sogar.“ Das ist dann mal eine Ansage, wir machen uns sofort ans Werk und sprechen vor dem Länderspiel an diesem Freitag gegen England in London (21 Uhr/ZDF) mit dem Gladbacher Offensivspieler über eine Karriere auf dem Zweiten Bildungsweg.

Vor Auswärtsspielen erkundigen Sie sich nicht nur über den Gegner, sondern auch über die Stadt, die Menschen und die Fans. Verraten Sie uns, warum sie das tun?

Lars Stindl: Ich schaue nach, was mich erwartet. Vor dem Länderspiel in Nordirland habe ich mich natürlich über Belfast informiert. Ich möchte einfach wissen, was auf mich zukommt, auf was für Menschen und welche Kultur ich treffe. So konnte ich dann auch besser verstehen, warum die Stimmung im Belfaster Stadion so fantastisch war.

Das macht nicht jeder Fußballprofi…

Lars Stindl: Na ja, das kann ich so nicht bestätigen. Als wir mit der Mannschaft in Russland beim Confed-Cup waren, haben sich auch die anderen Spieler über Russland informiert. Der DFB stellt hierzu vor Turnieren eine kleine Broschüre zusammen. Da werfen viele Spieler einen Blick rein.

Wir behaupten einmal, dass Sie ein Profi sind, der nicht der Norm entspricht. Stimmen Sie zu?

Lars Stindl: Wie sieht denn der ganz normale Profi aus?

Ein Spieler, der auf das Geld schaut, der von einem zum nächsten Verein pendelt, ein Legionär eben.

Lars Stindl: Da stimme ich Ihnen wieder nicht zu. Schauen Sie sich hier in der Runde der Nationalmannschaft um. Die meisten Jungs spielen schon seit Jahren bei ihren Klubs, einige kommen sogar aus der eigenen Jugend und sind ihrem Verein treu geblieben.

Irritiert es Sie, wenn Sie sehen, welcher Hype um den Fußball gemacht wird?

Lars Stindl: Fußball begeistert die Menschen. Die Stadien sind proppevoll, gerade in Deutschland. Darüber sollten wir glücklich sein. Und für uns als Spieler ist es ein Genuss, in diesen Stadien auflaufen zu können. Das ist etwas besonderes, dessen sind wir uns auch bewusst.

Ist es schwer, als Teil dieser Welt auf dem Boden zu bleiben?

Lars Stindl: Für manche wird das tatsächlich zu einem Problem. Deshalb würde ich jedem jungen Spieler empfehlen, sich ein privates Umfeld zu schaffen, dem er vertraut. Eltern, Freunde, die die Situation richtig einzuschätzen wissen. Die einem die Wahrheit sagen und sich nicht blenden lassen von der ganzen Schnelllebigkeit im Fußball.

Was erdet Sie?

Lars Stindl: Vor kurzem habe ich zum Beispiel meine Kumpels in der Nähe von Karlsruhe getroffen. Sie behandeln mich wie immer, wie einen alten Freund und nicht wie einen Nationalspieler. Alles andere hätte mich auch irritiert.

Sind Sie ein Fußballromantiker?

Lars Stindl: Nein. Das ist für mich ein zu großer Begriff. Aber natürlich liebe ich den Fußball, ich schaue mir gerne Fußballspiele im Fernsehen an, ich gehe gerne ins Stadion. Fußball fasziniert mich seit meiner Kindheit.

Sie haben für Ihre Karriere in ganz eigenes Tempo gefunden...

Lars Stindl: Das ist eine gute Formulierung.

Für wie ungewöhnlich halten Sie es persönlich, im Alter von 29 Jahren zum ersten Mal für die Nationalmannschaft berufen zu werden?

Lars Stindl: Bei mir war das eine stetige Weiterentwicklung. In Karlsruhe habe ich ein Jahr in der Zweiten Liga gespielt. Das war eine Zeit, die mir sehr gut tat. Dann ging ich nach Hannover, konnte in Ruhe weiter an mir arbeiten, wurde Kapitän, habe Verantwortung übernommen. Gladbach bedeutete dann noch einmal einen weiteren Schritt nach vorne. Und nun das Highlight, Nationalmannschaft, mit 29. Aber ich darf Ihnen sagen: Bei der Nationalmannschaft schaut niemand auf das Alter, sondern nur auf die Qualität.

Trotzdem bleibt der Weg, den Sie gegangen sind, ungewöhnlich…

Lars Stindl: In diesem schnelllebigen Geschäft ist mein Weg nicht normal, da gebe ich ihnen Recht. Ich bin total begeistert, wenn die Jungs mit 17, 18 Jahren zu uns Profis kommen und mittrainieren. Es beeindruckt mich, wie gut sie ausgebildet sind, welche Voraussetzungen sie mitbringen. Sie sind richtig weit für ihr Alter.

Sie wiederum wählten stets eher langsames Wachstum statt große Beschleunigung. Warum sind Sie von Hannover nicht nach Dortmund gegangen? Der BVB wollte Sie ebenfalls verpflichten.

Lars Stindl: Es gab damals schon die ein oder andere Idee. Aber mir war schnell klar, dass Gladbach sportlich und menschlich gut zu mir passt. Heute bin ich unglaublich froh darüber, dass ich das gemacht habe. Ich finde den Klub klasse. Ich bin glücklich.

Sie haben sich von Jahr zu Jahr gesteigert. Wo soll das eigentlich hinführen?

Lars Stindl: Ich habe einmal einen Bericht gelesen über Zlatan Ibrahimovic. Er handelte davon, wie viele Tore Ibrahimovic vor seinem 30. Geburtstag und wie viele Treffer er danach erzielt hat. Das war eine interessante Statistik. Er hat danach jedenfalls öfter getroffen. Sie sehen also: Ich habe noch einiges vor mir (lacht).

Sie haben beim Confed-Cup überzeugt, den Siegtreffer im Finale gegen Chile erzielt. Seitdem sind Sie bei der Nationalelf stets dabei. Sind Sie selber ein wenig überrascht?

Lars Stindl: Dass so spät in meiner Karriere der Bundestrainer noch einmal anruft, hätte ich auch nicht erwartet. Aber dann habe ich Gas gegeben, daraus wurde ein wunderbarer Sommer für mich und die Mannschaft. Nun bin ich wieder dabei. Das ist eine tolle Bestätigung.

In Hannover waren Sie Kapitän, in Gladbach auch. Übernehmen Sie gerne Verantwortung?

Lars Stindl: Ich habe keine Angst davor. Wenn man die Möglichkeit bekommt bei so einem großen Verein wie Gladbach die Mannschaft als Kapitän auf das Feld zu führen, kann man nicht Nein sagen. Das ist für mich etwas besonderes.

Ein Thema, das zur Zeit die Fußballwelt bewegt, ist der Einsatz des Videoassistenten. Wie haben Sie das zuletzt erlebt?

Lars Stindl: Ich war ein großer Befürworter des Videobeweises, weil ich die Hoffnung hatte, dass der Fußball dadurch gerechter wird. Nun muss ich aber sagen, dass die Einflussnahme auf das Spiel durch den Videoassisten überhand nimmt. Aktuell wird fast nur noch über die Entscheidungen der Schiedsrichter gesprochen. Nicht mehr über das Spiel. Diese teilweise langen Unterbrechungen stören den Fluss des Spiels. Es muss unbedingt eine Lösung gefunden werden, damit es besser wird.

Ihr Trainer Dieter Hecking erklärte, dass der Videoassistent in der Winterpause abgeschafft werde, weil er so nicht funktioniert...

Lars Stindl: Das habe ich auch gehört. Er sagte aber auch, dass man der ganzen Geschichte noch Zeit geben solle. Am letzten Wochenende bei unserem 1:1 gegen Mainz gab es das Beispiel, wie unterschiedlich Situationen gehandhabt werden. Beim ersten Tor gab es ein kurzes Signal des Videoassistenten, die Entscheidung ob Tor oder nicht wurde schnell entschieden. Das war okay. Beim zweiten Tor gab es ein Foulspiel, der Schiedsrichter bekam ein Signal aus Köln, er musste die Szene überprüfen. Dann hat er sich entschieden, den Treffer wieder zurück zu nehmen. Das hat allerdings zu lange gedauert. Damit geht die Geschichte des Spiels verloren."

Trauen Sie sich überhaupt noch nach einem Treffer zu jubeln?

Lars Stindl: Natürlich freut man sich immer in dem Moment, wenn man ein Tor geschossen hat. In der Hoffnung, es zählt dann auch.