Braunschweig. Ingo Hagedorn und Thilo Götz erinnern sich an die Anfänge der Fanbewegung in Block 9 – und an eine ganz besondere Choreographie.

Ganz sicher ist sich Ingo Hagedorn nicht mehr, wer der Gegner Eintracht Braunschweigs war. Es sei aber „irgendein Graupenspiel im Jahr 1994“ gewesen. Viel wichtiger ist ohnehin eine Geschichte, die sich auf den Rängen des Eintracht-Stadions abspielte. Hagedorn war damals 13 Jahre alt – und fasste einen Entschluss, der die Fanszene Eintracht Braunschweigs von da an prägen würde.

Die Südkurve des Stadions an der Hamburger Straße befand sich damals noch in der Umbauphase. Dennoch machte sich Hagedorn mit ein paar anderen Anhängern während der Partie auf in den östlichsten Teil der Kurve. Mit einer Trommel beladen, kaperten sie den Block. Was erst einmal ein wenig an eine Hausbesetzung erinnerte, war der erste Schritt hin zu einer größeren Fanbewegung der Blau-Gelben – und zur Geburt deren räumlichen Zuhauses, das jedem Eintracht-Fan ein Begriff ist: Block 9.

Bis dahin versammelten sich die treuesten Anhänger auf der Gegengerade des Stadions

Davor versammelten sich die treuesten Anhänger stets auf der Gegengerade. Ganz oben gab’s damals noch Stehplätze. „Dadurch, dass wir die Ersten in Block 9 waren, war damals klar: Das ist ab jetzt der Fanblock“, erinnert sich Hagedorn.

Zugegeben: Allzu viele Mitstreiter gab es nicht. Die Eintracht war zu dieser Zeit nicht gerade das beliebteste Kind der Stadt. Die großen Bundesligazeiten waren vorbei. Der Klub waberte durch die Drittklassigkeit. „Man war als Eintracht-Fan weitgehend allein. In den Kneipen wurde man hin und wieder gefragt, wie denn Braunschweig gespielt hatte. Es ging ja keiner hin“, erinnert sich Thilo Götz.

„Block 9 war der Mikrokosmos im Eintracht-Stadion“

Nicht einmal 5000 Menschen verirrten sich zu den Heimspielen ins Eintracht-Stadion. Ein Kampf auf verlorenem Posten – und sicher auch frustrierend für diejenigen, die etwas Euphorie entfachen wollten.

Ein zähes Stück Arbeit und unter den damaligen Voraussetzungen wahrscheinlich etwa so schwer, wie ein Streichholz in strömendem Regen zu entzünden. Nach und nach aber begann der Funke zu glühen. Die Fanklubs schlossen sich zusammen. Und Block 9 wurde zu ihrer Heimat. Darunter hat der Verein später einen Materialraum zur Verfügung gestellt. Auch außerhalb der Spieltage haben die Fans dort viele Stunden verbracht, Fahnen bemalt, Fanutensilien gebastelt. „Das war unser Treffpunkt“, sagt Hagedorn und Götz fügt an: „Block 9 war der Mikrokosmos im Eintracht-Stadion, in dem sich alle getroffen haben, die einhundertprozentig zur Eintracht standen.“

Thilo Götz war im Eintracht-Stadion der erste Capo

Die Fans sammelten Inspirationen, um mehr Wucht ins Stadion zu bekommen. Gar nicht so einfach. Schließlich gab’s damals keine Smartphones, kein Youtube, kein Internet. Also mussten die Analogmedien her. Das war mühsame Recherche. „Da sind wir noch in Buchhandlungen gegangen, haben uns Bildsammlungen besorgt und gesehen: So machen die das in Italien“, erklärt Götz.

Aus Italien stammt auch der Begriff Capo. Er bedeutet so viel wie Chef oder Kopf. Jeder, der in der Fankultur nicht gänzlich orientierungslos ist, weiß damit aber auch in diesem Kontext etwas anzufangen. Die Capos sind die Vorsänger. Diejenigen, die auf den Zäunen stehen, die Gesänge vorgeben, den Takt bestimmen, die Meute anpeitschen und koordinieren.

Götz war im Eintracht-Stadion der erste Capo. „Ich hatte mitbekommen, dass es so etwas in Italien gibt“, sagt der heute 52-Jährige, „ich bin dann auf den Zaun gestiegen und habe gesagt: ,Leute, wir können hier stehen und Bier trinken oder wir bringen hier Stimmung rein.‘“ Hagedorn folgte übrigens wenig später auf den Zaun.

Die erste Choreographie aus Block 9 gab es im Niedersachsen-Derby 1996

Und irgendwann wurde auch das Stadion wieder voller. Besonders um die Jahrtausendwende kamen immer mehr junge Fans dazu. Das führte doch zu uneingeschränkter Ausgelassenheit beim harten Kern – sollte man zumindest meinen. „Für uns war das schwierig“, sagt Götz, „einerseits haben wir uns gefreut. Andererseits mussten die Menschen auch damit klarkommen, dass nun 1000 Leute in Block 9 standen und den Dirigierstab in der Hand hatten.“ Sie kamen damit klar „und das hat uns gefreut.“

Eine erste Choreographie hatten die Block-9-Fans damals auch schon an der Hamburger Straße umgesetzt. Nicht so, wie der geneigte Sportschau-Gucker sie heute kennt. Die riesigen Kunstwerke, die Anhänger regelmäßig auf die Ränge zaubern, waren damals nicht umsetzbar. Hagedorn, Götz und Co. beschränkten sich zunächst auf einfache Pappschilder. Wenn die Mannschaften auf den Platz gingen, sollten die Zuschauer die Rechtecke hochhalten und so ein blau-gelbes Muster zeichnen. Und welches Spiel wäre dafür besser geeignet gewesen als das Derby gegen Hannover 96?

Unter www.bs1895.de haben die Eintracht-Fans Bernhard Grimm und Robin Koppelmann ehrenamtlich ein Foto-Archiv rund um die Blau-Gelben aufgebaut. Sie suchen noch weitere Bilder aus der Eintracht-Geschichte, im Idealfall von Spieltagen. Möglich sind digitale und klassische Print-Fotos, die privat erstellt wurden (keine Zeitungsartikel-Ausschnitte). Die Bilder können ausgeliehen, eingescannt und wieder zurückgegeben werden. Kontakt: info@bs1895.de.

Mehr als 22.000 Menschen kamen am 30. August 1996 ins Eintracht-Stadion. Die Choreo gelang – allerdings ohne Hagedorn. Es war freilich nicht so, dass er als Mitorganisator keine Lust hatte, dem Spektakel beizuwohnen. Das wäre ja so, als hätte der damalige Trainer Benno Möhlmann seinen Platz an der Seitenlinie vor dem Abpfiff verlassen.

Eintracht Braunschweig schlug Hannover 96 mit 3:2

Hagedorn musste warten. Er war mit ein paar Bekannten aus Aachen verabredet. Die wollten das Derby unbedingt sehen. Der Braunschweiger hatte Tickets besorgt. Seine Mutter hatte das Geld ausgelegt. „Ich konnte ja nicht einfach weggehen“, erinnert er sich. Die Aachener kamen zu spät. Die Kommunikation war schwierig. Die Smartphone-Problematik dieser Zeit kam auch hier zum Tragen.

Das Eintracht Stadion gegen Hannover 96 im Jahr 1996.
Das Eintracht Stadion gegen Hannover 96 im Jahr 1996. © Privat | Privat

Egal, die Eintracht schlug den Erzrivalen mit 3:2 – und für Hagedorn gab’s ein paar Gratis-Getränke. Viel wichtiger aber war: Block 9 hatte sich als Stimmungsepizentrum etabliert. Hagedorn und Götz hatten ihren Anteil daran. „Da bin ich schon etwas stolz drauf“, sagt Hagedorn.

Die Fanszene ist mittlerweile in Block 7 des Eintracht-Stadions beheimatet

Der Begriff Block 9 rief fortan bei jedem Eintracht-Fan unweigerlich eine Assoziation hervor. Das tut er eigentlich immer noch. Obwohl die Fanszene seit der vergangenen Saison fest in Block 7 umgezogen ist. Von der Mitte der Südkurve aus soll die Stimmung besser auf den Rest des Stadions übertragen werden. Hagedorn stand dieser Idee zunächst skeptisch gegenüber. „Jetzt muss ich aber sagen, dass es der richtige Schritt war“, sagt er.

Götz reist auch heute noch zu jedem Spiel der Blau-Gelben aus seiner Heimat Köln an und treibt die Südkurve unter vollem Körpereinsatz an. Hagedorn tritt mittlerweile ein wenig kürzer. Er ist zurückgekehrt auf die Gegengerade. Die Spiele der Eintracht schaut er sich aus Block 10 an. „Mit meinen 42 Lenzen bin ich für die Südkurve mittlerweile zu alt“, sagt er.