London. Der einzigartige Sprinter steht zum letzten Mal auf der ganz großen Bühne und zieht alle in seinen Bann.

Generationen von Trainern haben ihren Sportlern eingetrichtert, dass sie sich vor ihrem Start von nichts, aber auch gar nichts ablenken lassen dürfen, dass sie sich hundertprozentig auf die bevorstehende Aufgabe fokussieren müssen. Usain Bolt macht alles anders. Ausgerechnet der prominenteste Leichtathlet der Welt macht selbst Sekunden vor dem Start noch Mätzchen, während seine Konkurrenten schon lange in ihrem inneren Tunnel verschwunden sind.

Bei der Leichtathletik-WM in London wird die große Bolt-Show, diese einzigartige Mischung von Faxen-Machen und sportlicher Höchstleistung ein letztes Mal in allen Ländern dieser Welt für ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit sorgen. Der Jamaikaner wird nach seinen Auftritten über 100 Meter und in der Sprintstaffel seine Karriere beenden. Obwohl er erst 30 Jahre alt ist, sehnt er sich danach, nicht mehr Jahr für Jahr am Tag X der Welt beweisen zu müssen, dass er der schnellste Mensch auf Erden ist. Wahrscheinlich auch, weil er merkt, dass es ihm immer schwerer fällt. Im Vorlauf am Freitag kam Bolt nach 10,07 Sekunden ins Ziel. Wie stark er wirklich ist, kann man nach diesem lockeren Lauf nicht einschätzen.

„Ich habe der Welt bewiesen, dass ich der Größte bin“, sagte Bolt vor der WM. „Es war eine große Karriere. Ich fühle mich befreit.“ Elfmal wurde er Weltmeister. Achtmal Olympiasieger. Verloren hat er kein einziges großes Rennen. 2011 verpasste er den WM-Titel in Daegu über 100 Meter durch einen Fehlstart, der Olympiasieg 2008 mit der jamaikanischen Staffel wurde ihm aberkannt, weil Nesta Carter des Dopings überführt wurde.

Ein muskelbepackter 100-Meter-Läufer nach dem anderen wurde in den vergangenen Jahren positiv getestet, für eine Zeit lang gesperrt oder lebenslang von der Tartanbahn verbannt. Nur einer hat eine weiße Weste: Usain Bolt. Ungezählte Doping-Tests hat er abgegeben, alle waren negativ.

Aber kann ausgerechnet die klare Nummer eins, die mit 9,58 Sekunden den Weltrekord hält, als einziger sauber sein? Juristisch ist Bolt natürlich unschuldig. Bis jetzt gibt es keinerlei Anzeichen, dass er betrogen hat. Aber auch bei ihm läuft der Zweifel mit.

Bolt, der von den Medien weltweit als Usain Gold, Blitz-Bolt, Thunderbolt oder schlicht der König der Könige gefeiert wird, ist auf jeden Fall unverwechselbar. Kein anderer Sprinter läuft so locker. Während seine bulligen Rivalen wie der US-Amerikaner Justin Gatlin verkrampft ihre muskulösen Schultern in Richtung Ohren schieben und wie wilde Stiere durch die Casco Viejo in Pamplona stampfen, ist Bolt so entspannt, dass in der Zeitlupe zu sehen ist, wie seine Wangenmuskeln im Takt seiner eleganten Schritte mitschwingen. Bolt ist eben ein Phänomen, weil seine Flüge über die Bahn so schwerelos aussehen.

Bolt vereint Schnelligkeit und Entertainment. Er schafft Rekorde und Superlative und stillt die Sehnsucht nach darüber hinausgehender Unterhaltung. Der Jamaikaner hat mit seinen Auftritten auch Menschen gefesselt, die sich sonst nicht für die Leichtathletik interessiert haben.

Während andere wie der Südafrikaner Wayde van Niekerk über 400 Meter bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio Weltrekorde laufen, ist Bolt zuletzt immer langsamer geworden. 2008 holte er in Peking in 9,69 Sekunden Gold. In Rio triumphierte er in 9,81 Sekunden. Schon 2015 kam er als Weltmeister in Peking mit 9,79 Sekunden längst nicht an seinen Weltrekord bei der WM 2009 in Berlin (9,58) heran.

Trotz nachlassender Leistung zieht Bolt immer noch die Leichtathletik-Fans in seinen Bann. Das schafft kein anderer. Der Jamaikaner spielt mit dem Publikum. Selfies nach dem Rennen? Kein Problem. Geduldig posiert er für unzählige Fans. Ein Star zum Anfassen. Und ausgerechnet dieser Star verlässt jetzt die Bühne der Leichtathletik, die seit Jahren von einem Doping-Skandal in den nächsten stürzt. Verzweifelt wird ein Nachfolger gesucht.

„Ich bin überzeugt, dass Bolt mehr ist als nur der Superstar einer Generation“, erklärte Sebastian Coe, der Präsident des Welt-Leichtathletikverbandes IAAF. „Nur Muhammad Ali hat die Menschen so in seinen Bann gezogen. Damals, als Ali aufgehört hat, fragten sich alle plötzlich, wer ihm nachfolgen werde. Du ersetzt weder Ali noch Bolt. Das geht nicht!“ Es gibt aber auch Stimmen, die den Abgang des Superstars nicht so negativ sehen. „Ich hoffe, dass die Vielfalt der Leichtathletik nach seinem Abschied wieder deutlich gemacht wird“, sagt Speerwurf-Olympiasieger Thomas Röhler. „Das ist auch eine große Chance.“