Kiew. Der Austragungsort des Eurovision Song Contests am heutigen Samstag bietet prachtvolle Historie und schicke Szeneviertel.

Es ist kühl an diesem Frühlingstag auf dem Andreassteig. Der berühmte Straßenzug – der Legende nach prophezeite hier vor 2000 Jahren der Apostel Andreas die Gründung einer christlichen Stadt – verläuft wie ein langgezogenes S und verbindet Kiews Ober- und Unterstadt. „Unser Montmartre“, so nennen die Einwohner der ukrainischen Hauptstadt diesen knappen Kilometer.

Wie in Paris stellen hier Künstler ihre Werke aus, am Abend schlendern Verliebte über die kopfsteingepflasterte Gasse. Nichts lässt an den Konfliktherd Ostukraine denken. Straßenkunst ist angesagt, heute mit einer Gruppe singender Kinder, die ein Musikvideo aufnimmt. Liedermacher Gerd Krambehr hat ein Stück geschrieben. „Kiew“ heißt es und ist eine Liebeserklärung an die Stadt und seine Bewohner. „Ich mag den Ort“, sagt Krambehr, der in Thüringen zu Hause ist. „Kiew ist mir ans Herz gewachsen. Ich komme immer wieder her und habe viele Freunde“, sagt der 60-Jährige. Mit dem Lied möchte er die Aufmerksamkeit für den Eurovision Song Contest (ESC) nutzen.

Zwei Flugstunden entfernt,

ist Kiew eine fremde Welt

Mit O. Torvald schickt das Gastgeberland des ESC erstmals eine Rockband ins Rennen. „Time“ heißt der Song der fünf Musiker. „Let’s take time to find a place without violence“ heißt es an einer Textstelle. Damit nehmen sie den roten Faden der Vorjahressiegerin Jamala auf, die in ihrem Lied das Schicksal der Krimtartaren im Zweiten Weltkrieg thematisiert hatte.

Beim Finale des Song Contest am heutigen Samstag soll es auch ein Wiedersehen mit Ex-Boxweltmeister Vitali Klitschko geben. Er wurde 2015 als Bürgermeister von Kiew wiedergewählt und setzt auf den völkerverbindenden Aspekt des Wettbewerbs.

Zwei Flugstunden von Berlin entfernt, ist Kiew für Deutsche eine fremde Welt. Doch es lohnt sich, auf Entdeckungsreise zu gehen. Die Gastfreundschaft ist legendär, neben dem Gold der Kuppelkirchen und protzigen Bauten der Stalin-Zeit gibt es das junge Kiew mit trendigen Läden, Kneipen und Diskotheken. Das Fürstenreich Kiewer Rus gilt als Wiege des russischen Staates, von hier aus wurden die Handelswege zwischen Ostsee und Schwarzem Meer kontrolliert. Im 10. Jahrhundert erlebte es seine Blütezeit, zahlreiche byzantinische Kirchen entstanden. Wichtigstes Heiligtum ist das Höhlenkloster Lawra. Wer in die Verliese hinabsteigt, tritt eine Zeitreise ins vorletzte Jahrtausend an. Mit einer Kerze in der Hand können Besucher die Höhlen besichtigen, in denen die Mönche gelebt haben. Später, als der Bau oberirdischer Gebäude erlaubt war, dienten die Katakomben als Begräbnisstätten.

Die mehr als 70 Kirchen und Klöster, die sich auf dem Areal am Dnepr-Ufer befinden, sind zumeist im 18. Jahrhundert entstanden. Erst seit 1988 ist der Wallfahrtsort, der von orthodoxen Christen auch als zweites Jerusalem bezeichnet wird, wieder im Besitz der Kirche. Über 100 Mönche leben heute in den Klosteranlagen. Die prachtvoll mit sieben goldenen, bekreuzten Kuppeln verzierte Mariä-Himmelfahrts-Kathedrale, der Große Glockenturm und die erst in den 90er-Jahren wieder aufgebaute Uspenski-Kathedrale gehören zu den sehenswertesten Gebäuden. Ebenso wie die Goldkuppelkirche des Heiligen Michael. Im 12. Jahrhundert entstanden, wurde das Gotteshaus 1937 abgerissen. Von 1997 bis 2000 wieder aufgebaut, ist der mit einer großen und sechs kleineren Goldkuppeln versehene Prachtbau der Stolz der Ukrainer.

Heute feiern die Kiewer sich und die neue Zeit. Beliebter Treffpunkt ist der Krestschatik, die Promenade. Auf fast zwei Kilometern Länge reihen sich Wohn- und Bürogebäude im Zuckerbäckerstil aneinander. Boutiquen, die internationale Mode, aber auch Kreationen einheimischer Modemacher anbieten, wechseln mit Restaurants und Bars. Für Touristen sind die Preise in den Lokalen günstig – für ein gutes Abendessen mit Getränken zahlt man im Schnitt umgerechnet 15 Euro.

Viel los ist auch im Podil-Viertel mit schicken Restaurants, Cafés und Kneipen, etwa die „PR Bar“. Schnell kommen Besucher und Einheimische ins Gespräch. Danylo, ein Marketing-Manager, freut sich, dass in Kürze die Visafreiheit mit der EU kommt. „Dann können wir einfacher in Europa einreisen, und wir hoffen auch, dass mehr Besucher kommen. Ich habe das Gefühl, wir kommen langsam an. Die Ukraine hat es verdient.“