Venedig. Unterwegs mit dem Hausboot rund um Venedig: Dabei gilt es nicht, Strecke zu machen. Wer sich Zeit nimmt, findet viele Schätze.

Während des Gesprächs ein Schulterblick – und eine Schrecksekunde. Riesige Bricola voraus! Wir müssen ausweichen!

Nein, keine Aufregung. Wir steuern nicht mehr durch dichten Schiffsverkehr, sind nicht mal an Bord. Wir sitzen im Innenhof eines Restaurants auf Murano, der Glaskunst-Insel nördlich von Venedig. Die „Bricola“, ein dreibeiniges Seezeichen aus Holzpfählen, sieht so groß aus, weil sie nicht in den Boden der Lagune gerammt wurde und knietief im Wasser steht, sondern in diesem Innenhof der Trattoria mit der leckersten Calzone der Welt, serviert vom unfreundlichsten Kellner der Insel.

Wer auf Grund läuft, wird abgeschleppt

Mit der „Pellestrina“, einem 15 Meter langen Hausboot des Typs Pénichette, haben wir am Vormittag den Canale di San Nicolò, den Hauptschifffahrtsweg, gequert und die Insel Venedig südöstlich umfahren. Sicher steckt uns die Anspannung noch in den Knochen, von allen Seiten kreuzten Schiffe in allen Größen. Die Seezeichen sollten Orientierung geben, doch wenn man sie auf der Wasseroberfläche verteilt sieht, verwirrt das erst.

Dabei sieht auf der Karte, die uns Laura vom Bootsverleih zu Beginn der Reise verkauft hat,
alles ganz einfach aus. Dort sind die ausgebaggerten Wasserstraßen der Lagune in einem dunkleren Blau gehalten als die großen Flächen der Untiefen, die bei Ebbe nicht mal einen halben Meter mit Wasser bedeckt sind. Wer mit dem Schiff von den Kanälen abkommt und auf Grund läuft, muss Hilfe rufen und sich runterschleppen lassen. Das wäre nicht nur peinlich, sondern würde auch Gebühren kosten – zudem könnte die Schiffsschraube bei Grundkontakt beschädigt werden. „Der Kanal ist durch Bricole gekenn zeichnet“, sagt Laura. „Wir fahren auf der Seite, wo die Nummern angebracht sind. An den Abzweigungen stehen ‚Dama‘, das sind Bricole mit zusätzlichem mittleren Pfahl, der in die Höhe ragt. Sie weisen uns den Weg.“

„Fährt Laura mit?“, fragt Liza in die Runde, als die junge Frau das Boot verlassen hat – immerhin haben wir sechs, Klaus, Bruno, Christiane, Liza, Tammy und ich, uns bereits auf die vier Kabinen verteilt. Natürlich wird Laura uns nicht begleiten, auch wenn sie ihre Schulung in Wir-Form abhält – aber lustig wäre die Vorstellung, und vielleicht hätten wir uns manchmal jemanden gewünscht, der sich besser auskennt als wir.

Auf der Fahrt entlang der Insel Pellestrina, die die Lagune von der Adria trennt und nach der unser Schiff benannt ist, sahen wir mit Girlanden geschmückte Häuser, Kirchen und Straßenlaternen und entschlossen uns zum Anlegen am Kai. Obwohl abends auf der Lagune das Wasser so glatt liegt wie Öl auf einer Pizza, werden wir in der Nacht ordentlich durchgeschaukelt. Jedes vorbeifahrende Schiff verursacht mehr Wellen, je weniger die Tempobegrenzung eingehalten wird. Wir dagegen haben es auf unserer Tour nicht eilig. Strecke machen ist nicht, was wir vorhaben. Wir sehen lieber genau hin, selbst wenn wir zweimal in demselben Ort
anlegen.

Jung und Alt tanzt gemeinsam

auf dem Dorfplatz

Beim zweiten Anlegen ist der Fischerort noch immer festlich geschmückt. Jetzt werden Zelte, Buden und eine Bühne mit Musikboxen aufgestellt. Keine Frage, dass wir wieder anlegen, um die Jubiläumsfeier Pellestrinas zu erleben. Italien steht für leckeres Essen und Trinken, doch als die Tanzkapelle aufspielt, entdecken wir eine weitere Landesspezialität: die der „Balli di Gruppo“ – der Gruppentänze. In einheitlichen Formationen bewegt sich der gesamte Dorfplatz, Jung und Alt. Wir prägen uns Schrittfolgen ein und mischen uns beim nächsten Lied unter die Menge – um zu erkennen, dass nun eine andere Figur getanzt wird.

Wir erzählen Paolo, einem Einheimischen, von unseren Erlebnissen. Von dem Mann-über-Bord-Manöver, als Bruno vorbildlich einen verlorenen Fender rettete, oder davon, dass uns auf der Einfahrt zum Canale delle Navi der Motor ausging. Von unseren perfekten Anlegemanövern in Burano, der Insel mit den bunten Häusern, und Murano, dem Zentrum der Glaskunst. Dieser Touristenmagnet ermüdet unsere Augen, und so ruft Christiane, als wir den Hof der Trattoria betreten, erleichtert aus: „Endlich glasfreie Zone!“

Calzone- und Pasta-gestärkt wollen wir nicht dieselbe Strecke zum Schiff zurückwandern und finden auf Google Maps eine Abkürzung. Erst stehen immer weniger Häuser an den Brücken, dann wird die Gegend einsam, Fuß baller trainieren auf einem Sportplatz. Tammy fragt sie nach dem Weg zur Marina: Wir befinden uns am ganz anderen Ende der Insel, weil ich auf der Karte zwei Kanaleinfahrten verwechselt habe. Mist, jetzt ist es noch richtig weit! Liza geht mit gesenktem Kopf und entdeckt auf dem Sandweg einen farbigen Stein, ein Stück Murano-Glas – und noch eines. Jetzt suchen wir alle, es ist wie Ostern, und jeder findet eine Handvoll bunte Glasstücke, offenbar Reste aus Glasbläsereien, die auf Murano zur Wegbefestigung genutzt werden. Manche Umwege schätzt man eben erst im Nachhinein.

Welches für uns das Wort des Jahres ist? „Bricola“ natürlich. Aber erst am Ende der Fahrt.