Berlin. Zwölf Jahre lang ist Angela Merkel jetzt Bundeskanzlerin. Dabei zeigte sie Gestaltungswillen – wenn nötig auch gegen ihre Partei.

Sie ist oft spät dran. Für Entscheidungen braucht Angela Merkel (CDU) „sehr lange“, wie sie einräumt. Dafür hadere sie hinterher so gut wie nie mit ihnen. Auf ihre Weise ist sie weit gekommen. Seit zwölf Jahren regiert Merkel jetzt Deutschland – eine vierte Amtszeit und Helmut Kohls Kanzlerrekord (16 Jahre) sind am Sonntag zum Greifen nahe. Zweimal harmonierte sie mit der SPD, einmal ließ sie sich auf ihren erklärten Wunschpartner ein, auf die FDP. Die SPD verlor seit 2005 fast ein Drittel ihrer Wähler. Für die Liberalen stellte sich gar die Existenzfrage, als sie vor vier Jahren aus dem Bundestag herausflogen.

Während die Partner an ihrer Seite verzwergen und alt aussehen, wirkt Merkel nicht so erschöpft wie der späte Helmut Schmidt, nicht angezählt wie Gerhard Schröder, vor allem ungefährdeter als Konrad Adenauer, Willy Brandt oder Helmut Kohl, die zum Ende ihrer Amtszeiten von „Freunden“ umzingelt waren, von Schattenmännern und Kronprinzen.

Unumstritten ist auch Merkel nicht. Am elegantesten formuliert der Philosoph Peter Sloterdijk Kritik an ihrer Bilanz, böse ahnend, dass die Frau doch nicht zu stoppen ist. Wer im Kreisverkehr sei, der habe Vorfahrt, schreibt er.

Mit der Flüchtlingsfrage betrat

sie eine politische Todeszone

In Wahrheit legte sie in den zwölf Jahren eine weite Strecke zurück. Für ihre „mutigste“ Entscheidung hält sie den Ausstieg aus der Atomenergie, eine direkte Folge des Reaktorunfalls im japanischen Fukushima 2011. Keine Affekthandlung, sondern ein kalkulierter Bluff war ihr Versprechen aus dem Jahr 2008: die Sparergarantie. Sie sollte in der Finanzkrise Bankenkunden beruhigen, einer Anlegerflucht entgegenwirken. Deutschland hat die Banken- und die Eurokrise besser als viele Partnerstaaten überstanden. Merkels riskanteste Entscheidung war die Aufnahme von Hunderttausenden Flüchtlingen im Spätsommer 2015.

Die Entscheidungen belegen ihren Gestaltungswillen, kommen aber situativ zustande. Von einem großen Plan kann keine Rede sein. Merkel bespricht ihre Entscheidungen mit wenigen und schafft gern Fakten; ganz so, als zähle in der Demokratie nur das Ergebnis und nicht der Prozess. Sloterdijk spricht von der „Oligokratie“, wo nicht die vielen, sondern die wenigen regierten. Auf die Spitze treibt Merkel die Methode beim Wahlprogramm der CDU. Nicht mal am Vorabend der Entscheidung wird an die Präsidiumsmitglieder der Entwurf des Papiers verteilt. Einsame Entscheidungen lässt sie sich hinterher meist von Partei und Parlament absegnen und rechtfertigt sie mithin damit, dass sie zur Befriedung der Gesellschaft beitrügen. Auf jeden Fall gilt das für den Atomausstieg und für die „Ehe für alle“. Abgeschliffen hat sich vielfach auch das Trennende zu den anderen Parteien – und im Endergebnis sehr zu Merkels Vorteil.

Vieles ist unvollendet. Die Energiewende ist nicht abgeschlossen, die Integration der Flüchtlinge steckt in den Anfängen. Die Schuldenkrise ist nicht bewältigt, und mit der Digitalisierung steht Neuland an. Als Merkel Kanzlerin wurde, da gab es noch keine Smartphones.

In die Geschichtsbücher schreibt sie sich mit der Flüchtlingspolitik ein. Sie ist großherzig, zugleich beginnt sie noch im Herbst 2015, den Zustrom zu steuern, zu begrenzen: Grenzkontrollen, verschärfte Ausländergesetze, der Flüchtlingsdeal mit der Türkei. In jenen Tagen betritt sie den politischen Raum, den Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) die Todeszone nennt: Sie muss um ihr Amt kämpfen. Die Widerstände sind groß und Merkel lange Zeit unsicher, wie schnell sich wohl erste Erfolge ihrer Politik einstellen werden.

Zuspruch hatte sie nie zuvor in ihrer Kanzlerschaft so nötig wie in jenen Tagen zum Jahreswechsel 2016. Rainer Eppelmann muss es ihr angesehen haben, als er Merkel an einem Abend bei einem Klavierkonzert am Gendarmenmarkt über den Weg lief. „Hoffnung“, setzte ihr Mitstreiter aus den letzten Tagen der DDR an, sei „nicht die Überzeugung, dass eine Sache gut ausgeht. Hoffnung ist die Gewissheit, dass eine Sache Sinn macht, egal wie sie ausgeht“ – sein Lieblingszitat des früheren tschechischen Dichters und Präsidenten Václav Havel.

Längst ist die Flüchtlingskrise unter Kontrolle. Aber Zahltag ist erst am Sonntag. Dann wird der politische Preis der Willkommenskultur fällig: der Aufstieg

der AfD. Zur Entfremdung

von weiten Teilen der konservativen, deutschnationalen Wähler kommt es, weil Merkel ihre Partei auf einen Kurs der Mitte trimmt. Der Satz „rechts von uns ist nur noch die Wand“ wirkt heute deplatziert, gehörte aber mal zur Grundüberzeugung der CSU und großer Teile der CDU.

Zum Solitär ist Merkel auch im Weltmaßstab geworden. Sie hat viele überlebt. Wer das „Familienfoto“ von ihrem ersten G8-Gipfel im Jahr 2007 in Heiligendamm betrachtet, erkennt: Neben Merkel ist nur noch Wladimir Putin im Amt. Sie und der russische Präsident kennen sich seit 2000 und vermutlich so gut wie keine zwei anderen in ihrer Liga. Viele trauen der Kanzlerin am ehesten zu, mit Männern wie Putin, Erdogan, Trump fertigzuwerden. Im Ausland wird sie als „letzte Verteidigerin des liberalen Westens“ („New York Times“) verehrt.

Zweimal hat sie gezielt den Bürgerdialog gesucht

Ist sie darob nicht längst abgehoben? Im sieben Stock im Kanzleramt, wo Panzerglasscheiben jeden Laut von draußen schlucken, scheint die Hausherrin manchmal selbst zu befürchten, dass sie den Bezug zum Alltag ihrer Bürger verliert. Zweimal hat sie – an den Parteien vorbei – den direkten Dialog zu ihnen gesucht, in generalstabmäßig organisierten Bürgerdialogen, 2011 und erneut 2015.

„Frau Merkel ist eine in sich ruhende Person. Das unterscheidet sie von mir“, sagt Herausforderer Martin Schulz beim „Brigitte“-Talk. Die Gelassenheit und Nervenstärke, um die sie beneidet wird, zeichnete sie bereits als junge Frau in der DDR aus. Wer Aussagen aus der Zeit über sie liest, wundert sich, dass sie ihre Gültigkeit keineswegs verloren haben. Sie sei die „Unentbehrliche, die im Zweifelsfall wusste, wie es geht“. Oder auch: „Sie bewahrte die Ruhe im Chaos.“

Merkel ist jetzt 63 Jahre alt, sie hat ihre Partei aufreizend lange warten lassen, bis sie sich zur Kandidatur entschieden hat. Ein Fingerzeig für 2021? Von der Macht zu lassen ist eine Lektion, die sie gern aufschiebt. Sie will es noch mal wissen am 24. September. Für fünf Tage später notiert sie den ersten Termin auf ihrem Kalender: Digitalkonferenz in Estland, „da habe ich zugesagt“. So oder so, als Kanzlerin oder auch als Ex.