Berlin. Mehr Menschen werden Zielscheibe von Antisemitismus. Vorurteile und Hetze kommen von Neonazis, auch von jungen Muslimen –und zunehmend aus der Mitte der Gesellschaft. 681 Straftaten registriert die Polizei im ersten Halbjahr 2017.

Eine Meldung von Anfang November: Eine Schülerin aus Dresden erhält einen Preis für Zivilcourage. Sie hatte einen Mitschüler angezeigt, weil er und andere Witze über den Holocaust gemacht oder den Hitlergruß gezeigt haben sollen. Die Ermittlungen gegen den Jungen wurden eingestellt. Dafür prangt das Foto des Mädchens schon bald auf Facebook, in Kommentaren wird sie als „Denunziantin“ und als „indoktriniert“ beschimpft.

Am 9. November, Gedenktag an die Reichspogromnacht der Nationalsozialisten, stehlen mutmaßliche Rechtsextremisten Stolpersteine an mehreren Orten aus den Gehwegen, die an ermordete Juden erinnern.

Sommer 2014: Eine Pro-Palästina-Kundgebung im Ruhrgebiet eskaliert. Demonstranten rufen: „Hamas, Hamas, Juden ins Gas.“

Im Frühjahr 2017 verlässt ein jüdischer Junge seine Berliner Schule, nachdem Mitschüler aus türkischen und arabischen Familien ihn bedrohten. Die Schulleitung steht in der Kritik. Sie habe weggeschaut.

Und dann urteilt ein Frankfurter Gericht, dass eine kuwaitische Fluglinie rechtens handelt, wenn sie Israelis die Mitreise verweigert. Die Klage eines israelischen Passagiers lehnen die Richter ab, da der kuwaitische Staat die Mitnahme von israelischen Fluggästen verbiete. Daran müsse sich die Airline halten, befindet das Gericht. Auch in der Bundesrepublik.

Es sind Meldungen aus dem deutschen Alltag – 72 Jahre nach Ende des NS-Regimes.

Jüdischer Alltag,

gedruckt auf Postkarten

681 antisemitische Straftaten registrierte die Polizei im ersten Halbjahr 2017. Vier Prozent mehr als in den ersten sechs Monaten im Vorjahr. Doch die Dunkelziffer dürfte viel höher liegen. So zählte die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) in 2016 allein für Berlin 496 Vorfälle. „Noch immer werden mangels Vertrauen in die Sicherheitsbehörden zahlreiche antisemitische Attacken nicht angezeigt“, sagt Deidre Berger, Direktorin des American Jewish Committee (AJC) in Berlin.

Lila Postkarten kleben an der Wand. „Mir wurde gesagt, ich provoziere, wenn ich mich als Jude zu erkennen gebe“, steht dort in weißer Schrift. Oder: „Es kommt häufig vor, dass mir Handlungen der israelischen Regierung persönlich vorgeworfen werden.“ Und: „Ich möchte die Chance haben, offen über Alltagsantisemitismus zu sprechen, ohne diskreditiert zu werden.“ Jüdischer Alltag, gedruckt auf Papier, zehn mal 15 Zentimeter.

Es sind Aussagen junger Studierender, die aus jüdischen Familien kommen. Sie berichten von ihrem Leben in Deutschland. Von der Hetze, die sie in der S-Bahn, im Büro, auf Facebook hören und lesen. Manche erzählen auch von Gewalt. „Doch häufig sagt dann niemand etwas, niemand schreitet ein. Es mangelt an Solidarität mit Menschen, die Opfer von Antisemitismus geworden sind“, sagt Marina Chernivsky.

In ihrem Büro hängen die Postkarten. Chernivsky und ihre Mitarbeiter von der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland beraten Menschen, die Hetze oder auch Gewalt erleben. Sie haben die Studenten interviewt, sie hören die Geschichten von Eltern und deren Kindern, denen Antisemitismus etwa auf dem Schulhof entgegenschlägt.

Menschen wie Chernivsky sagen, dass Deutschland viel und intensiv über Antisemitismus debattiert. Häufig geht es dabei um Definitionen: Wo hört Kritik an der israelischen Regierung auf, wo beginnt Judenhass? Oft geht es um die Vergangenheit und die NS-Zeit. Viel Theorie, viel Historie. Dabei würden sich Angriffe im Alltag „immer offener und hemmungsloser“ zeigen, sagt Chernivsky. Nur: Wer nicht Jude sei, bekomme davon wenig mit. Andere dagegen direkt, am eigenen Leib. „Das Gefühl der Unsicherheit in der jüdischen Gemeinde wächst seit Jahren“, sagt Berger vom AJC. Auch weil Terroranschläge zunehmen, nicht selten gezielt gegen Juden, wie in Paris, Brüssel oder Kopenhagen.

Jeremy Issacharoff sei „beeindruckt von der Entschlossenheit, mit der die Entscheidungsträger in Deutschland gegen jegliche antisemitische Angriffe und Erscheinungen vorgehen“, sagt er unserer Zeitung. Seit August ist Issacharoff Israels neuer Botschafter. Doch er sagt auch: „Natürlich beobachten wir mit größter Sorge den wachsenden Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft und in Europa.“

Antisemitismus und Israelhass gehören noch immer zur DNA der rechtsextremen Ideologie. Neonazis seien „der politische Hauptträger der Judenfeindschaft“, hält eine unabhängige Kommission des Bundestags fest. Ein Ziel der Rechten: Die „moralische Last des Holocaust“ müsse überwunden werden – der „Schuldabwehr-Antisemitismus“. Das färbt ab.

Nach Ansicht von Benjamin Steinitz vom RIAS gebe es in Deutschland heute eine größere Selbstverständlichkeit, die Verbrechen der Nazis zu relativieren oder zu leugnen. Brandbeschleuniger dieses Antisemitismus seien auch Politiker der AfD. Der baden-württembergische Landtagsabgeordnete Wolfgang Gedeon machte in seinen umstrittenen Publikationen das Judentum als „inneren“ und den Islam als „äußeren“ Feind des „christlichen Abendlandes“ aus. Der Thüringer AfD-Fraktionschef Björn Höcke forderte eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“.

Von rechts schallen die radikalen Töne – in der Mitte der Gesellschaft stoßen sie auf Widerhall. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung gibt an, dass 81 Prozent der Deutschen die Geschichte der Judenverfolgung „hinter sich lassen“ möchten. 58 Prozent wollen definitiv einen „Schlussstrich“ ziehen.

Eine Folge dieser Schuldabwehr ist eine übersteigerte Israelkritik, ein zunehmender Antizionismus. Israel mache „Profit vom Holocaust-Gedenken“, heißt es. Israel wolle mit dem „Krieg in Gaza“ die Palästinenser „auslöschen“. Teilweise sei eine Gleichsetzung Israels mit dem NS-Regime zu sehen, hält eine nun erschienene Analyse im Auftrag des hessischen Verfassungsschutzes fest. Die Autorin untersuchte 7000 Kommentare von Nutzern auf Facebook, Twitter, Youtube und Medienportalen im Internet.

Die eigene Geschichte abschließen dadurch, dass man die Juden und Israel diskreditiert und zu Tätern macht – so entledige man sich als Deutscher der „unliebsamen Gefühle“, die viele mit den Morden des NS-Staates verbinden, sagen Experten wie Chernivsky.

In den Straftaten gegen jüdische Menschen und Einrichtungen geht es um Körperverletzung und Sachbeschädigung, um Drohungen und Propagandadelikte wie Hakenkreuz-Schmierereien. Laut Polizei sind 93 Prozent der Täter extreme Rechte. Doch daran haben Experten Zweifel. So rechnet die Polizei einen Schriftzug „Juden raus“ automatisch der rechten Szene zu, sofern nicht explizit ein anderer Absender genannt ist.

Zu wenig zeige sich in diesen Angaben der Sicherheitsbehörden, dass immer mehr Menschen aus muslimischen Familien gegen Juden wettern, kritisieren Experten. Jüdische Gemeinden würden sich „besonders besorgt“ über Antisemitismus aus dieser Richtung zeigen, sagt Berger vom AJC. Der Zuzug Hunderttausender Flüchtlinge vor allem aus Ländern wie Syrien, in denen der Antisemitismus Staatsdoktrin sei, verschärfe dieses „Gefühl der Unsicherheit“, so Berger.

Wie stark Geflüchtete antisemitisch eingestellt sind, ist kaum bekannt. Es fehlen Studien und Statistiken. Seit 2016 erfasst die Polizei Straftaten dieser Gruppe. In dem Jahr registrierten die Beamten zwölf antisemitische Delikte, bei denen der Tatverdächtige ein Asylbewerber war.

Die Kriege in Staaten wie Syrien oder Irak, der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern, der Machtkampf zwischen Iran und Saudi-Arabien – all das rückt den Nahen Osten in den Fokus der deutschen Öffentlichkeit. Und damit auch die Verschwörungstheorien, die behaupten, Israel habe die Terrororganisationen Hamas und „Islamischer Staat“ selbst erschaffen.

Laut der Studie des Verfassungsschutzes haben die untersuchten antisemitischen Kommentare zum Nahost-Konflikt etwa zur Hälfte Muslime als Absender. Nur zehn Prozent sind demnach der rechtsextremen Szene zuzurechnen. „Es kommt vor, dass Gewalt gegen jüdische Jugendliche durch den Konflikt legitimiert wird“, sagt Chernivsky von der Beratungsstelle. Die Krisen in Nahost, sie wirken auch auf deutsche Klassenzimmer.

Das AJC startete eine Umfrage an 21 Berliner Schulen. Ein Ergebnis: „Du Jude“ ist ein weitverbreitetes Schimpfwort – oft, aber nicht nur bei jungen Muslimen. Manchmal wurde Israel von Schülern aus den Atlanten gekritzelt und der Staat in den Schulbüchern auf ein „kriegsführendes Land“ reduziert. Die Lehrkräfte seien zudem meist überfordert, den Schülern den Konflikt in Nahost unverkürzt beizubringen.

Zentralrat der Muslime warnt

vor „Entlastungsdebatte“

Aiman Mazyek, der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime (ZMD), sagt, dass er die Sorgen der Juden in Deutschland vor Übergriffen etwa von Flüchtlingen aus arabischen Diktaturen teile, die „zum Teil leider antijüdisch“ sozialisiert seien.

„Andererseits warnen wir vor einer Entlastungsdebatte.“ Schon seit Jahren würden viele Muslime mit jüdischen Gemeinden eng zusammenarbeiten, es gebe zahlreiche Projekte, die Jugendliche über radikale Ideologien aufklären sollen. Doch auch Mazyek weiß, dass immer wieder Kritik an einzelnen muslimischen Verbänden aufkommt, sie würden sich nicht klar genug von judenfeindlichen Parolen ihrer Mitglieder distanzieren.

Mazyek sagt: „Antisemitismus ist im Islam eine große Sünde. Aus unserer Religion erwächst der Aufruf, sich nicht über Menschen oder einen anderen Glauben herabzulassen.“ Doch es gehe nicht nur um Religion, sondern auch um Bildung. Das Wissen etwa um die Geschichte des Nationalsozialismus nehme ab, stellt das AJC fest. Vier von zehn Schülern wissen demnach nicht, dass Auschwitz ein Konzentrationslager war. Der Holocaust verblasst. Gerade arbeite Mazyek deshalb an einem Projekt. Der ZMD-Vorsitzende möchte nach Auschwitz reisen, das Lager besuchen. Mit dabei: junge Flüchtlinge aus Syrien.