Berlin. Nach den Stimmenverlusten steht für die CDU die Frage einer Neuorientierung im Raum. Die Kanzlerin will jeder Kritik zuvorkommen.

Plötzlich steht sie im Raum, die Machtfrage. Jens Spahn fragt im CDU-Präsidium, wie lange Volker Kauder die Unionsfraktion anführen will. Kauder antwortet mit dem Verweis auf die Geschäftsordnung: am heutigen Dienstag erst einmal für ein Jahr. Tatsächlich ist es üblich, sich zu Beginn einer Legislaturperiode für ein Jahr und danach für drei Jahre zur Wahl zu stellen. Später wird Parteichefin Angela Merkel vor den Journalisten behaupten, sie habe Kauder für das Amt vorgeschlagen und sei „auf breite Zustimmung gestoßen“. Das ist korrekt. Und doch lässt der Wortwechsel zwischen Spahn und Kauder aufhorchen. Am Tag nach den herben Stimmenverlusten bei der Bundestagswahl stellt er indirekt die Frage nach einer Erneuerung, buchstäblich nach einer Neuaufstellung. Man wird sich daran erinnern – in einem Jahr?

Die Analyse der Niederlage

wird erst mal aufgeschoben

Kritik an der Parteichefin und Kanzlerin findet nicht statt. Eine schonungslose Analyse soll auf einer Klausur im Herbst folgen. Priorität hat der Machterhalt. Innenminister Thomas de Maizière und sein Kabinettskollege Wolfgang Schäuble (Finanzen) raten dazu, rasch bei Grünen und FDP die Chancen einer Koalition zu sondieren und am besten noch diese Woche zu Gesprächen einzuladen.

Die Jamaika-Koalition ist Merkels Machtoption. Aber sie will nicht einsehen, dass alle Messen schon gelesen sind: „Ich habe die Worte der SPD vernommen, trotzdem sollte man im Gesprächskontakt bleiben.“ So ergeht es auch vielen anderen Führungsleuten, etwa dem Thüringer CDU-Chef Mike Mohring. Auch Merkels Vize Thomas Strobl erinnert die SPD an ihre Verantwortung. Spring, SPD!

Es gibt große, inhaltlich begründete Bedenken gegen „Jamaika“. Insbesondere bei der inneren Sicherheit, so der Mittelstandspolitiker Carsten Linnemann, würden es „sehr schwierige Gespräche“ werden. Fast unmöglich erscheint, neben der CDU auch FDP und Grüne von der CSU-Forderung nach einer jährlichen Obergrenze für Flüchtlinge zu überzeugen. „Eben“, meint Junge-Union-Chef Paul Ziemiak, „ich glaube, die Obergrenze wird jetzt keine Rolle spielen“. Von der CSU aus betrachtet ist das Unterfangen sogar noch anstrengender, ein Spagat geradezu. Sie müsste im Bund auf die Grünen zugehen und zugleich in Bayern so konservativ bleiben, dass sie der AfD die Wähler wieder abspenstig machen kann. Wie soll das gehen?

Eine erneute Große Koalition wäre die Lösung vieler Probleme. Im rechten Flügel der Union – eine Ironie – ist die Sehnsucht nach dem bisherigen Partner am größten; auch aus Sorge, dass Merkel in einem Bündnis mit Grünen und FDP ihre Partei ungehemmt weiter nach links führen könnte. Vor der Landtagswahl in Niedersachsen gilt eine Große Koalition als ausgeschlossen. Danach, etwa Ende Oktober, könne man nach der Konstituierung des Bundestags ins Gespräch kommen, hoffen Christdemokraten. Vielleicht suchen sie nur einen billigen Jakob: Eine Option auf die SPD würde die Preise bei den Verhandlungen mit Grünen und FDP drücken. In jedem Fall deutet alles darauf hin, dass es langwierige, schwierige Verhandlungen werden, an deren Ende ein fragiles Bündnis stehen könnte. Oder Neuwahlen? „Jedes Spekulieren auf irgendeine Neuwahl ist die Missachtung des Wählervotums. Davon bin ich zutiefst überzeugt“, sagt Merkel. „Jeder muss sich dann ganz genau überlegen, ob er glaubt, dass das für ihn einen Fortschritt bedeuten würde.“ Das lässt sich auslegen: Die SPD soll aufpassen, nicht vom Regen in die Traufe zu kommen.

Der größte Unsicherheitsfaktor ist die CSU. Sie hat massiv verloren. Ihr Spitzenkandidat Joachim Herrmann hat den Einzug in den Bundestag verfehlt und äußert sich zu seinen Berliner Zukunftsplänen zurückhaltend. Das werde sich zeigen, sagt der CSU-Mann nur.

Im Herbst 2018 steht in Bayern eine Wahl an. Schon in zwei Monaten, am 17. und 18. November, fällt auf einem CSU-Parteitag in Nürnberg eine Vorentscheidung. Wenn jemand CSU-Chef und Ministerpräsident Horst Seehofer verdrängen will, hat er bis Mitte November Zeit dafür. Seehofer: „Wenn jemand das anders will, dann soll er es sagen.“

Am Morgen eröffnet er die Vorstandssitzung der CSU in München mit der Frage nach der gemeinsamen Fraktion in Berlin. Will man sie noch, braucht man sie, geht es allein besser? Die Kunde macht im Konrad-Adenauer-Haus schnell die Rede. Noch mehr Erstaunen löst Schäubles coole Reaktion aus. Er bemerkt, wenn das passiere, solle man nicht lange lamentieren, sondern seinerseits die CDU-Fraktion aufstellen. Alle im Raum verstehen den Wink: Es geht auch ohne die CSU. Wenig später ist der Spuk zu Ende: In München beschließt die CSU einstimmig, an der Fraktionsgemeinschaft festzuhalten.

Merkel behält die Ruhe und die Nerven, ihre Stärken, und ist entschlossen, eine Regierung zu bilden. Sie will die Macht, hat daran Freude, „weil ich gern gestalte“ – und zwar für vier weitere Jahre, „ja klar“. Damit will sie der drohenden Diskussion über eine Kanzler-Dämmerung zuvorkommen. Die engere Parteiführung wäre der letzte Schauplatz und die Tage nach der Bundestagswahl der ungeeignetste Zeitpunkt dafür. Als ein „Drahtseilakt“ empfindet Vorstandsmitglied Peter Liese die Lage, das Ergebnis sei einerseits dramatisch, andererseits müsse man nach vorn blicken.

Spätestens hier ist der Zeitpunkt gekommen, einen genaueren Blick auf das Machtsystem Merkel zu werden. Zunächst: Die meisten Mitglieder in den Führungsgremien sind ihr treu ergeben, viele auch direkt von ihr abhängig, weil sie schon in ihrem Kabinett sitzen (und bleiben wollen) oder dies zumindest anstreben. Merkel ist immer noch die Frau, die Karrieren befördern kann.

Ganz abgesehen davon gibt es immer einen guten Grund, sich mit Kritik zurückzuhalten und solidarisch zu sein: Die Niedersachsen-Wahl ist schon in drei Wochen, danach stehen Koalitionsgespräche und Regierungsbildung an. Immer gilt dieselbe Logik: Jetzt, gerade jetzt, dürfe man die eigene Partei nicht schwächen. Die realistischste Gelegenheit, Merkel einen Denkzettel zu verpassen, bietet sich beim nächsten Parteitag Ende 2018, ein Wahlparteitag, da wird man auf Merkels Ergebnis achten ...

Kurzfristig wird es in der CDU weder zu einer Neuaufstellung noch zu einer Neuausrichtung kommen. „Ich bin mir sicher, wir brauchen keinen Ruck nach rechts“, beteuert CDU-Vizechefin Julia Klöckner mit Blick auf die AfD. Im Osten, erläutert Mohring, sei der Protest von „links nach rechts gewandert“. Das heißt: Wähler, die vor vier Jahren die Linke ankreuzten, gaben jetzt ihre Stimme der AfD. Folglich stellt sich die Frage, ob man diese Partei mit einem Rechtsruck der CDU zurückdrängen könnte; mehr noch, ob dies alleinige Aufgabe der Union wäre, was Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen bezweifelt.

Die CDU verlor mehr Stimmen an die FDP als an die AfD

Wie sie die AfD bekämpfen will, lässt Merkel weitgehend offen. Nur so viel: indem man die Sorgen der AfD-Wähler angeht. Anderes treibt sie womöglich mehr an. Die Kanzlerin gibt zu bedenken, dass ihre Partei mehr Stimmen an die FDP (1,3 Millionen) als an die AfD (eine Million) verloren habe. Wenn man die Ergebnisse der Union und FDP 2013 und vier Jahre später vergleicht, haben sie weniger als drei Prozentpunkte verloren. Nachhaltiger hat sich das Kräfteverhältnis innerhalb des bürgerlichen Lagers verschoben, zugunsten der FDP. Aber die Union bleibt die stärkste Kraft, gegen sie kann nicht regiert werden, insbesondere keine linke Mehrheit zustande kommen.