Berlin. Das Parlament wird so groß wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik. Der Bund der Steuerzahler berechnet Mehrkosten.

An Norbert Lammert liegt es nicht. Der scheidende Bundestagspräsident hat in den vergangenen vier Jahren all seine rhetorischen Fähigkeiten angewandt, um den Abgeordneten des Bundestags ins Gewissen zu reden und sie von einem neuen Wahlrecht zu überzeugen. Denn das Parlament war schon in den vergangenen vier Jahren mit 631 Abgeordneten zu groß, nachdem das Wahlrecht Anfang 2013 geändert worden war. Doch Lammerts Einsatz blieb folgenlos – und das Wahlrecht bis heute unangetastet.

Mit erheblichen Konsequenzen. Im neuen Bundestag sitzen 709 Parlamentarier, so viele wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik. Der bisherige Rekord lag bei 672 Mandaten im Jahr 1994. Die reguläre Mindestzahl liegt bei 598 Mandaten. Auch mit dieser Zahl gilt es als größtes Parlament westlicher Demokratien.

Wie kommt dieser Aufwuchs zustande? Das komplexe Wahlrecht sieht für Überhangmandate einer Partei automatisch Ausgleichsmandate der anderen Parteien vor, damit die Sitzverteilung im Bundestag exakt das Zweitstimmenergebnis widerspiegelt. Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate erringt als ihr nach ihrem Zweitstimmen-Anteil eigentlich zustehen. Größter Profiteur dieser Regel war am Sonntag die Union, die nunmehr 36 Überhang- und Ausgleichmandate auf sich vereinigt.

Vor der Wahl hatten Wahlrechtsexperten gemutmaßt, der neue Bundestag könne bis auf bis zu 700 Abgeordnete anwachsen. Die schlimmsten Befürchtungen sind damit übertroffen worden. Der Bund der Steuerzahler (BdSt) machte sich gleich am Montagmorgen an die Arbeit, die Mehrkosten des Rekord-Plenums zu berechnen. Das Ergebnis stellte der BdSt unserer Zeitung exklusiv zur Verfügung: Demnach kosten die zusätzlichen 111 Mandate im Vergleich zur Regelgröße mindestens 75 Millionen Euro mehr – pro Jahr. Laut Steuerzahlerbund werden die Ausgaben des Bundestags 2018 allein für mandatsbezogene Zwecke 517 Millionen Euro betragen. Bei einer Regelgröße von 598 Abgeordneten würde das Parlament mit 442 Millionen Euro auskommen.

In die Kalkulation eingerechnet sind neben den Abgeordneten-Diäten und den Kostenpauschalen pro Mandatsträger auch die Gehälter für die Mitarbeiter in den Abgeordnetenbüros, sowie Sachausgaben und Fraktionskosten. Mit rund 246 Millionen Euro bilden die Mitarbeiter der Parlamentarier den teuersten Kostenpunkt. An zweiter Stelle folgen laut Berechnung die Diäten mit rund 83 Millionen Euro pro Jahr. Die steuerfreien Aufwandspauschalen für die Politiker im Bundestag schlagen mit gut 37 Millionen Euro zu Buche. Nicht eingerechnet sind die zusätzlichen Aufwendungen, die noch auf die Bundestagsverwaltung etwa bei der Unterbringung der weiteren Abgeordneten und ihrer Mitarbeiter zukommen.

Der Präsident des Steuerzahlerbundes, Reiner Holznagel, sprach gegenüber dieser Redaktion von einem „XXL-Bundestag“ und einem „überdimensionierten Parlament“. Die Fraktionen müssten sofort ein neues Wahlrecht und eine absolute Mandatsobergrenze für den Deutschen Bundestag beschließen, forderte er. „Selbstverständlich gehören die Ausgaben für ein Parlament zu den Betriebskosten einer demokratischen Grundordnung, aber hier reißt der Bundestag das Fenster auf und dreht sprichwörtlich die Heizung hoch“, so der BdSt-Präsident weiter. Seiner Meinung nach sind 500 Abgeordnete genug. Mehr Abgeordnete bedeuteten nicht automatisch mehr Demokratie oder bessere Ergebnisse, mahnte Holznagel an.

Nun muss der Bundestag mit seiner Größe klarkommen und Räume finden für die Neuen und ihre Mitarbeiter. Ein schwieriges Unterfangen, zumal eine Dauerbaustelle frühere Planungen über den Haufen geworfen hat: Der Erweiterungsbau für das Marie-Elisabeth-Lüders-Haus des Bundestags hätte längst fertig sein sollen, aber Baumängel verzögern den Bezug des Anbaus bis voraussichtlich 2020.

Auch im Plenum wird es allmählich eng, doch nicht so eng, dass über Umbaumaßnahmen nachgedacht werden müsste. Schließlich beherbergt der Sitzungssaal alle fünf Jahre auch die Bundesversammlung zur Wahl des Bundespräsidenten. Und da konnten bereits 1260 Wahlleute ihren Platz finden. Spannender ist jetzt, wer am Ende wo sitzen wird. Darüber müssen sich die Fraktionen einig werden – was angesichts des Einzugs der AfD in den Bundestag kompliziert werden dürfte. Keine der anderen Fraktionen hat Interesse daran, direkt neben den AfD-Parlamentariern zu sitzen. Der Umbau der Bestuhlung wird nach Angaben der Bundestagsverwaltung erst kurz vor der konstituierenden Sitzung des Bundestags beginnen. Die ist laut Grundgesetz spätestens am 30. Tag nach der Wahl, also eventuell erst am 24. Oktober.