Berlin. Der Kanzlerkandidat Martin Schulz beschert der SPD eine historische Niederlage, aber das Scherbengericht bleibt erstmal aus.

Sie haben ja schon mit dem Schlimmsten gerechnet in der SPD, aber als es so weit ist, herrscht im Willy-Brandt-Haus dann doch das blanke Entsetzen. Oben im sechsten Stock der Parteizentrale sitzt Kanzlerkandidat Martin Schulz seit dem Nachmittag mit der engsten Parteiführung zusammen, die ersten – noch streng vertraulichen – Prognosen der Institute erhält die Runde bereits am frühen Nachmittag. Stunden vor der Schließung der Wahllokale ist den Genossen das Ausmaß der Katastrophe klar, die Stimmung ist entsprechend düster: Die SPD hat mit Schulz das schlechteste SPD-Ergebnis der Nachkriegszeit eingefahren, ihr Status als Volkspartei verblasst. Bis zu 60 der knapp 200 Bundestagsabgeordneten verlieren ihre Mandate, die Partei büßt einen hohen einstelligen Millionenbetrag an Wahlkampfkostenerstattung ein. Schlimmer hätte es nicht kommen können.

Unter Schock hat die Parteiführung im Präsidiumssaal binnen weniger Stunden zentrale Fragen für die nächste Wahlperiode zu klären: Kann Schulz mit diesem Katastrophen-Ergebnis Parteichef bleiben? Steht die SPD für eine Koalition zur Verfügung? Schulz hat vorgebaut und seit Tagen bei führenden Genossen die Stimmung sondiert. Mit Erfolg. Als der glücklose Kanzlerkandidat nur 30 Minuten nach Schließung der Wahllokale unten im Saal des Willy-Brandt-Hauses vor die Anhänger tritt, ist schon alles beschlossen: Der Parteivorsitzende bleibt, die SPD geht in die Opposition.

Schulz wird von den Genossen

mit Jubel empfangen

Schulz wird von den Genossen trotz allem mit Beifall und „Martin, Martin“-Rufen empfangen. Er wirkt schon wieder gefasst, als er von einem „schwarzen und bitteren Tag“ spricht. Er sucht erst gar nicht lange nach Gründen, sondern blickt nach vorn und verkündet, was die Partei jetzt vor allem hören will: Die SPD werde die Koalition mit der Union beenden. Jubel brandet auf. Die Entscheidung, wird Schulz später versichern, sei endgültig, die Wähler hätten den Sozialdemokraten ein Mandat zur Opposition gegeben. Als stärkste Oppositionskraft werde die SPD dafür kämpfen, die Kanzlerin abzulösen. Schulz erklärt zugleich, die SPD müsse sich grundsätzlich neu aufstellen. Er halte es dabei für seine Pflicht, diesen Prozess als Vorsitzender zu leiten.

Schulz will Parteichef bleiben, auch über den Parteitag im Dezember hinaus. Hinter ihm hat sich die gesamte Führungsriege auf der Bühne versammelt, es ist ein Signal der Geschlossenheit. Ganz vorn und dicht an seiner Seite steht Arbeitsministerin Andrea Nahles, obwohl sie derzeit gar kein Parteiamt hat: Schulz setzt auf den Schulterschluss mit der prominenten Genossin – Nahles ist offenbar mit seiner Unterstützung die Kandidatin für den Fraktionsvorsitz. Amtsinhaber Thomas Oppermann ahnt im Lauf des Sonntags, dass seine Zeit abläuft. Schulz macht später deutlich, er selbst werde den Fraktionsvorsitz nicht anstreben, aber am Montag einen Vorschlag machen: Schulz und Nahles – auf dieses neue Führungsbündnis wird es hinauslaufen, heißt es am Abend in der Partei.

Der frühere Parteichef Sigmar Gabriel, Vater der abgewählten Großen Koalition, steht indes beim Auftritt des Vorsitzenden unauffällig in der letzten Reihe. So zeichnen sich neue Allianzen in der SPD ab. Vielleicht auch deshalb bleibt das große Scherbengericht für den gescheiterten Kanzlerkandidaten aus. Der Mann, den sie noch im März mit 100 Prozent der Stimmen zum Parteivorsitzenden gewählt haben, hat die Erwartungen schlimm enttäuscht, aber in der SPD überwiegt die Auffassung, Schulz seien große Vorwürfe nicht zu machen: Gravierende Fehler habe er nicht begangen, die Ursachen für das Desaster lägen tiefer, die Versäumnisse seien älter. Und ein Neuanfang müsse jetzt nicht überstürzt werden. „Schulz hat den Erneuerungsprozess eingeleitet, er wird ihn fortsetzen“, sagt Fraktionschef Oppermann. Ein anderer Führungsmann gibt zu bedenken, Schulz sei viel zu spät als Kanzlerkandidat gestartet – aber das sei nicht seine Schuld, sondern die des früheren Parteichefs Gabriel gewesen. Mit dem, so heißt es, wäre die Wahl kaum besser ausgegangen. Gabriel wird sich in den kommenden Tagen ohnehin kritische Worte von Genossen anhören müssen, auch wegen seiner Rolle im Wahlkampf.

Schulz dagegen hat der SPD Anfang des Jahres immerhin ein paar glückliche Momente geschenkt – er hat ihr eine Vorstellung davon gegeben, wie es sein könnte, wenn die SPD wieder selbstbewusst und auf Augenhöhe in den Wettbewerb mit der Union tritt. Die Parteibasis stehe hinter ihm, heißt es unter Führungsleuten, der Rückhalt sei ihm sicher; man konnte das bei den Wahlkundgebungen gut beobachten.

Nicht, dass es keine Kritik gäbe am Parteichef: „Er hat Inhalte viel zu spät geliefert, das Gerechtigkeitsthema überbetont und die Erfolge der Großen Koalition kleingeredet“, fasst ein Führungsmann aus der SPD-Fraktion die kursierende Mängelliste zusammen. Ein Team habe ihm gefehlt. Und auf dem linken Flügel der SPD wird kritisiert, dass Schulz sich nicht ernsthaft um eine rot-rot-grüne Regierungsoption bemüht habe. Der Druck, in den kommenden Jahren konsequent ein Bündnis mit der Linkspartei vorzubereiten, dürfte wachsen; ob Schulz dafür der richtige Mann wäre, steht dahin.

Entscheidend sind aber jetzt wohl taktische Erwägungen – aus denen auch deutlich wird, dass Schulz womöglich nur ein Übergangsvorsitzender bleibt. Ein personeller Umbruch an der Parteispitze würde die Lage der SPD vor den Landtagswahlen in Niedersachsen am 15. Oktober eher verschlechtern. Noch haben die Genossen die Hoffnung, zum Abschluss eines schrecklichen Wahljahres wenigstens in Hannover einen Sieg einzufahren. Aus der Niedersachsen-SPD wird deshalb der Ruf nach einstweiliger Stabilität an der Parteispitze laut. Andere Strategen drängen, vor der Klärung der Führungsfrage erst einmal die Ursachen des Debakels aufzuarbeiten: „Wir haben jetzt dreimal nacheinander die Bundestagswahl verloren, zweimal haben wir eine Große Koalition als geprügelte Hunde verlassen – das muss jetzt endlich diskutiert werden“, fordert ein Präsidiumsmitglied. „Diesmal muss es wirklich eine schonungslose Aufarbeitung geben.“ Es sei „Zeit für eine gründliche politische Inventur“, meint auch NRW-Landesgeschäftsführer Michael Groschek.

Immerhin, die Koalitionsfrage ist schneller geklärt als gedacht. Dabei hatten Eingeweihte noch mit Auseinandersetzungen gerechnet: Bei einem Teil der Führungsriege galt die Aussicht auf die Oppositionsbank an der Seite von Linkspartei und AfD als „Horrorvision“; mancher hätte sich gern die Tür zur Regierungsbeteiligung offen gehalten für den Fall, dass eine Jamaika-Koalition nicht zustande kommt. Aber die Stimmung in der Partei ist klar gegen Schwarz-Rot, das ist Schulz in den vergangenen Tagen von vielen Seiten signalisiert worden. Schon 2013 war die Zustimmung zur „GroKo“ ein enormer Kraftakt.

Damals folgte die Basis, weil Gabriel ein paar Herzensanliegen der SPD (Mindestlohn, Rente mit 63) im Koalitionsvertrag untergebracht hatte und weil die SPD-Führung geschlossen für das Regierungsbündnis eintrat. Damit ist diesmal nicht zu rechnen. SPD-Schatzmeister Dietmar Nietan, ein Vertrauter des Vorsitzenden, stellt klar: „Die Neuauflage der Großen Koalition ist für unsere Basis keine Option mehr.“