Brüssel. Warschau drohte, den EU-Gipfel in Brüssel platzen zu lassen – um eine zweite Amtszeit von Donald Tusk als Ratspräsident zu verhindern.

„Gute Nachrichten“, hatte Donald Tusk noch am Vorabend des EU-Gipfels vermeldet: „Die EU wächst schneller als die USA und zum ersten Mal seit 2008 wachsen alle 28 EU-Volkswirtschaften.“ Dann hat ihn die Heimat eingeholt, ihn und die EU: Polen gegen Polen, die Regierung in Warschau gegen die Wiederwahl des polnischen Gipfel-Präsidenten Tusk – eine Provokation, die sich an diesem Donnerstag zum großen Ärgernis auswächst.

Geplant war eine Zusammenkunft im Zeichen der Zuversicht. Nach langen Jahren multipler Krisen ist für die EU-Oberen wieder etwas Land in Sicht: Da wäre zunächst die Ökonomie, traditionell im Zentrum des März-Treffens der Staats- und Regierungschefs. Die Wirtschaft hat sich erholt und legt rundherum zu. Sodann Migration. Die ist zwar nicht unter Kontrolle, aber stark gedrosselt, Ansätze eines systematischen Managements sind erkennbar. Auch US-Präsident Donald Trump ist behilflich: Mit seinem chaotischen Twitter-Regiment führt er die hässlichen Seiten des Populismus vor und schweißt so die Alte Welt zusammen.

Merkel versuchte, Gipfel nicht entgleisen zu lassen

Das erleichtert die Suche nach einer gemeinsamen Perspektive. Sie soll den zweiten Gipfeltag bestimmen, wenn sich die Teilnehmer – ohne die britische Kollegin Theresa May – darüber verständigen wollen, was sie Ende des Monats in Rom aus Anlass des 60. Geburtstags der EU als Zukunftsentwurf präsentieren wollen. „Die Europäische Union bewegt sich in eine Richtung, die mir gefällt“, meint der niederländische Premier Mark Rutte.

Doch dann zeigt sich, dass es mit der Geschlossenheit nicht so weit her ist. Dabei ist die Ernennung Tusks für eine zweite zweieinhalbjährige Amtszeit eigentlich eine Formsache. Maltas Premier Joseph Muscat hat als Regierender des derzeitigen EU-Vorsitzlandes die Stimmung unter den Kollegen ausgelotet und eine „überwältigende Mehrheit“ zugunsten des Polen festgestellt. Einstimmigkeit wird nicht gebraucht. Folglich scheint der Fall klar.

Warschau ist auf Konfrontation gebürstet

Doch was sich zuvor schon angedeutet hatte, wird nun unangenehme Realität: Die polnische Regierung in Warschau ist auf Konfrontation gebürstet. Jaroslaw Kaczynski, als Chef PIS-Partei der unangefochten starke Mann von Warschau, denkt nicht daran, den alten Rivalen Tusk kampflos die Schwelle zur zweiten Amtszeit passieren zu lassen.

Zwar hat der als Ersatzkandidat aufgebotene Europa-Abgeordnete Jacek Saryusz-Wolski nicht die Spur einer Chance. Aber daraus will die polnische Führung offenbar maximales innenpolitisches Kapital schlagen. Außenminister Witold Waszcykopwsky kündigt an, notfalls werde man durch Abgang den Gipfel platzen lassen.

Die Partner sind konsterniert. „Keine Ahnung, was passiert“, sagt der finnische Ministerpräsident Juha Sipilä bei der Ankunft im „großen Ei“, dem neuen Tagungsort der EU-Häuptlingsversammlung. Maltas Muscat, der bei der Wahl Regie führt und einen Auftritt des Kandidaten Sariusz-Wolski nicht zugelassen hat, pocht auf den Ablaufplan: „Da gibt es sehr klare Regeln. Daran werden wir uns halten.“ Fragt sich nur, ob sie tatsächlich zu halten sind. Der Chef der Europäischen Grünen, Reinhard Bütikofer spricht zutreffend von „einer schrillen politischen Schlacht“.

Merkel spricht mit Polens Regierungschefin Beata Szydlo

Selbst Bundeskanzlerin Angela Merkel, als Stubenälteste im Europäischen Rat die Verkörperung diplomatischer Besonnenheit, schafft diesmal keine wirkliche Entkrampfung. Noch vor Beginn der eigentlichen Arbeitssitzung setzt sie sich mit der Warschauer Kollegin Beata Szydlo zusammen, um das Schlimmste – die Entgleisung des ganzen Gipfels – zu verhindern. Szydlo gilt als reine Dienerin ihres Herrn Kaczynski, hat sich aber als solche in Brüssel den Ruf der Zähigkeit erworben, wenn auch im Dienst der falschen Sache.

Doch die anderen lassen sich nicht beirren: Um kurz vor fünf Uhr nachmittags wird das Ergebnis verkündet: Der Pole Tusk bleibt Präsident des Europäischen Rates, der Pole Sariusz-Wolski ein Poltergeist der europäischen Geschichte. Immerhin, heißt es nachher aus diplomatischer Quelle, waren die Polen vom Gedanken des krachenden Abgangs selbst nicht mehr überzeugt. Wer geht, nimmt sich selbst aus dem Spiel und überlässt es den anderen. Bleibt als zweite Möglichkeit des tätigen Widerstands die Weigerung, die vorbereitete gemeinsame Schlusserklärung mitzutragen. Die bedarf nämlich prinzipiell der Einstimmigkeit – jeder hat eine Blockade-Möglichkeit. Und so kündigte es Beata Szydlo am Abend an.

Tusk – jenseits seiner Wahl Tagungschef – muss nun die Beschlüsse solo, als Erklärung des Vorsitzenden verkünden. In der Sache ändert das nichts, politisch aber ist es ein hässlicher Makel, zumal es doch um Geschlossenheit gehen sollte.