Berlin. Reisegruppen nerven – diese Ansicht ist ziemlich arrogant. Unsere Kolumnistin jedenfalls freut sich über quirliges Leben in der Stadt.

Wer kann morgens schon singen. Stumpf sitzen die Leute in der S-Bahn, wischen über ihr Smartphone, unansprechbar mit weißen Knöpfen im Ohr. Doch dann kommen sie: mit Schlagzeug aus dem Rollkoffer, Saxofon, Harmonika und unerträglich guter Laune. „Volare“, trällert die S-Bahn-Band, „oh oh, „cantare, oh oh oh oh“. Für eingefleischte Berliner sind es eher die S-Bahn-Schrecks. Bloß nicht reagieren. Das machen nur die Touris. Bloß nicht im Takt mit dem Fuß wippen und schon gar nicht mit dem Kopf.

Doch während die S-Bahn quietschend Richtung Bahnhof Friedrichstraße unterwegs ist, hat der Italo-Schlager von zwei jungen Frauen Besitz ergriffen. „Nel blu dipinto di blu“, trällern sie lautstark mit, „felice di stare lassù“. Kinder glotzen, Eltern klatschen. Statt den Klingebeutel rumzureichen, legt die Band noch mal von vorn los.

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Die Deutschlandfunk-Nachrichten, die ich über meine AirPods höre, verschwimmen in Partystimmung. Ich schaue hoch und blicke direkt in die Gesichter der beiden Frauen. Unverkennbar Italienerinnen. Als dann doch der Klingelbeutel kommt, werfe ich einen Euro rein, obwohl in jedem Reiseführer steht, wie peinlich das ist. Tatsächlich habe ich plötzlich gute Laute. Mit den Italienerinnen versinke ich dann in der anonymen Masse auf dem Bahnsteig. Den Italo-Schlager werde ich den ganzen Tag nicht aus dem Kopf bekommen.

Allerdings frage ich mich, warum es überhaupt so uncool ist, sich einfach mal mitreißen zu lassen. Was ist das für ein Berlin-Vibe, schweigend durch die Straßen zu stapfen. Und warum muss ich mich als Wahlberlinerin so bemühen, bloß nicht wie ein Touri staunend herumzustehen?

Brandenburger Tor, Museumsinsel, KaDeWe, Hackescher Markt: Was für ein Tag

Neulich hatten wir Besuch von Freunden aus Freiburg. Die wollten zum Brandenburger Tor. Zur Museumsinsel. KaDeWe. Hackescher Markt. Ich wollte erst abwinken und sagen, ok, macht mal, ich koch dann zu Hause was Schönes. Die Touri-Tour brauche ich nicht. Aber dann sah ich in das enttäuschte Gesicht meiner Freundin – und gab nach. Also schlenderten wir durch den Tiergarten im Indien-Summer-Licht. Wir fotografierten uns auf dem Pariser Platz. Wir standen auf Rooftop-Bars mit Aperol und blickten auf die Skyline in der untergehenden Sonne. Wir tranken Kaffee Unter den Linden. Wir besuchten Flohmärkte und gingen abends ins Varieté.

Brigitta Stauber
Brigitta Stauber © Berlin | Reto Klar

Ein Wochenende lang taumelten wir von Hotspot zu Hotspot, verschmelzten mit anderen Touristen im babylonischen Sprachwirrwar. Was für eine wundervolle Stadt, sagte die Freundin. Seitdem sehe ich Touristen mit anderen Augen. Wenn sie bei einer Fahrrad-Sightseeingtour die Friedrichstraße verstopfen: Wunderbar. Wenn Schülerhorden die U-Bahn stürmen: Was für ein Glück. Wenn die Bedienung in einem Café auf meine Bestellung: „Einen Cappuccino bitte“ antwortet: „Could you please order it in english“: Wie international. Tatsächlich gehe ich raus aus der Wohnungstür und bin in der großen weiten Welt.

Ich erinnere mich an meine Jugend in Dortmund. Eine schöne Stadt. Das fanden auch Jugendliche aus dem umliegenden Sauerland, die gerne am Wochenende grölend durch die Kneipen zogen. Wir nannten sie die „Sauerland-Touristen“. Niemals hätten wir mit ihnen geredet. Aus heutiger Sicht muss ich feststellen: Touristen-Bashing ist tatsächlich total arrogant. Denn wer will schon dort leben, wo niemand hin will?

Einfach mal das Smartphone wegpacken und aus dem Fenster sehen

Also passen wir doch auf sie auf, statt über sie zu schimpfen. Wenn sie auf dem Leihfahrrad unterwegs sind und sich nicht sattsehen können an den Menschen auf der Straße. Wenn sie in Gruppen über die Kreuzung gehen, während die Ampel auf rot springt.

Und wenn sie in der S-Bahn zu kitschigen Refrains mitsingen und klatschen: Dann nehmen wir das doch als Ablenkung vom stumpfen Arbeitsalltag an. In meinem Fall sind es die Nachrichten, das macht es leicht in diesen Zeiten. Also ziehe die Stöpsel aus den Ohren, wische auf dem Smartphone das E-Paper weg und schaue aus dem Fenster. Die Gedächtniskirche zieht an mir vorbei und Bellevue. Vorne im Waggon klatschen sie wieder. Sie könnten wenigstens mal was anderes singen als „Volare“.

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