Berlin. Die jüngste Angriffswelle auf die Hafenstadt Odessa geht den Menschen an die Substanz – und wird auch für China allmählich zum Problem.

Dmitriy Kopitskiy klingt müde. In den vergangenen vier Nächten hat er kaum geschlafen. Das Geräusch explodierender Geschosse hat ihn wachgehalten, er hat Stunden im Korridor seiner Wohnung verbracht, die nicht weit entfernt vom Hafen in Odessa ist. So schlimm war es noch nie, sagt der 38-Jährige. „Odessa hat so etwas noch nicht erlebt. Das ist etwas völlig Neues“.

Odessa, die Perle der Ukraine am Schwarzen Meer. Gegründet Ende des 18. Jahrhunderts, gewachsen als eine multikulturelle Stadt, in der Menschen aus Dutzenden Nationen zusammenlebten – eine Stadt, von der der russische Nationaldichter Alexander Puschkin einmal sagte: „Hier atmet man ganz Europa.“ Die Potemkinsche Brücke, früher der Touristenmagnet schlechthin, die vom Hafen hinauf über 192 Stufen in die Innenstadt führt und die Sergei Eisenstein mit seinem Film „Panzerkreuzer Potemkin“ weltberühmt gemacht hat, ist zurzeit nicht begehbar. Der Hafen ist militärisches Sperrgebiet.

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Hier ragen Lastkähne und gewaltige Getreidesilos auf. Das Schwarze Meer ist für die Ukraine der wichtigste Transportweg für ihre Exporte. Vor der russischen Invasion im Februar 2022 wurden 97 Prozent der Agrar-Transporte über die ukrainischen Häfen abgewickelt. Dann blockierte die russische Marine die Häfen, eroberten russische Landstreitkräfte Mariupol. Im Juli 2022 verständigten sich die Ukraine und Russland unter der Vermittlung der Türkei und der UN auf einen Korridor, in dem leere Schiffe Odessa anlaufen, mit Getreide beladen werden und wieder ablegen können, ohne unter Beschuss zu geraten.

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„Du wartest darauf, dass es vorbei geht“

Ein Jahr später stoppt Russland dieses Abkommen, am Tag des ukrainischen Angriffs auf die Kertsch-Brücke, die die besetzte Krim mit dem russischen Festland verbindet. Mit dem Stopp des Abkommens beginnen die russischen Luftangriffe auf Odessa und andere Städte im Süden. Dmitriy Koptisky ist den Lärm des Krieges gewohnt. Er arbeitet als Journalist und begleitet ausländische Reporter bei ihrer Arbeit. „Was in den vergangenen Nächten passiert ist, geht trotzdem an die Nerven“, erzählt er am Telefon. „Du hörst draußen das Geräusch von Marschflugkörpern und Raketen, du hörst die Explosionen und wartest darauf, dass es vorbei geht.

Auf diesem vom ukrainischen Katastrophenschutz zur Verfügung gestellten Bild verrichtet eine Rettungskraft Löscharbeiten nach einem Angriff.
Auf diesem vom ukrainischen Katastrophenschutz zur Verfügung gestellten Bild verrichtet eine Rettungskraft Löscharbeiten nach einem Angriff. © dpa | PAVLO PETROV

Die russischen Streitkräfte greifen in den Nächten zwischen Montag und Freitag mit ganz großem Besteck an. Die Ukrainer sprechen von mindestens 50 Kamikaze-Drohnen, Dutzenden Kh-22- und Kalibr-Marschflugkörpern, Onyx-Antischiffsraketen und ballistischen Iskander-Raketen. „Die Drohnen schicken sie vor, um unsere Luftabwehr zu testen“, berichtet Kopitskiy. Die ukrainische Luftabwehr ist durch die schiere Menge der Geschosse überfordert. Nur ein Teil kann vor dem Einschlag vom Himmel geholt werden. „Die Wucht der Einschläge ist manchmal so heftig, dass unser ganzer Wohnblock wackelt und die Alarmanlagen der Autos losgehen.“

Tausende Tonnen Getreide sind vernichtet

Was genau an der Hafeninfrastruktur in der Region beschädigt worden ist, ist unklar. Die Rede ist von Getreide- und Öl-Terminals und Ladevorrichtungen für die Schiffe. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj berichtete bereits am Mittwoch, dass in einem der Häfen ein Silo getroffen worden sei, wobei 60.000 Tonnen für China bestimmtes Getreide vernichtet wurden. Bei dem jüngsten Angriff in der Nacht zu Freitag seien noch einmal rund 100 Tonnen Erbsen und 20 Tonnen Gerste vernichtet worden, berichtete der Chef der Militärverwaltung, Oleh Kiper, auf Telegram.

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Es bleibt jedoch nicht nur bei Treffern in den Häfen. In Odessa schlägt in der Nacht zu Donnerstag ein Geschoss in einem Verwaltungsgebäude ein. Ein 21-jähriger Sicherheitsmann kann nur tot aus den Trümmern geborgen werden. In der benachbarten Stadt Mykolajiw sterben durch die russischen Angriffe zwei Menschen. Dutzende weitere werden in diesen Tagen verletzt.

Auf dem Friedhof von Odessa sind die Gebeine von Toten zu sehen, nachdem dort ein Geschoss explodiert ist. Die Menschen in Odessa seien mit ihren Nerven am Ende, erzählt Kopitskiy. „Jeder ist gestresst.“ Die Wut auf die russischen Angreifer wachse von Nacht zu Nacht. „Meine Mutter ist 70. Sie sagt, sie hätte jetzt so lang gelebt, aber niemals so viel Hass empfunden.“

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