Berlin. Der Verfassungsschutz warnt: Deutschland steht weiterhin im Fokus dschihadistischer Gruppierungen wie Islamischer Staat und Al-Kaida.

Anfang des Jahres blitze die Gefahr noch einmal deutlich auf. Und dieses Mal ging es nicht um radikalisierte Reichsbürger, die einen Putsch gegen die verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik planten. Es ging nicht um Extremisten von rechts oder links und auch nicht um Destabilisierungsversuche aus Russland. Es ging um mutmaßliche Dschihadisten – um selbst ernannte islamische Gotteskrieger. Eine Szene, die in den vergangenen Jahren in Deutschland stark zurückgedrängt wurde durch Polizei und Nachrichtendienste. Viele Anhänger der Terrormiliz „Islamischer Staat“ sitzen in Haft, sind im Ausland im Gefängnis. Oder sie sind tot, getötet in Gefechten in Syrien und Irak.

Doch zu Beginn des Jahres zeigte sich: Eine Gefahr für die Sicherheit in Deutschland sind die Dschihadisten noch immer. Denn im Januar stürmten Sicherheitskräfte in Castrop-Rauxel eine Wohnung und nahmen dort einen 25-jährigen, vorbestraften Iraner und zunächst auch dessen älteren Bruder fest. Von einem ausländischen Geheimdienst hatten die Behörden in Deutschland einen Hinweis bekommen, dass der Mann einen Anschlag mit einer Gift-Bombe planen könnte. Im April wiederum nahmen in Hamburg Spezialkräfte der Bundespolizei einen 28-jährigen Syrer fest, der gemeinsam mit seinem Bruder „aus einer radikalislamistischen und dschihadistischen Grundhaltung“ heraus einen Anschlag mit einem Sprengstoffgürtel geplant haben soll.

Thomas Haldenwang (l), Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, und Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) bei der Vorstellung des Verfassungsschutzberichts 2022
Thomas Haldenwang (l), Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, und Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) bei der Vorstellung des Verfassungsschutzberichts 2022 © dpa | Christoph Soeder

Islamistischer Terrorismus: „Deutschland ist nach wie vor Zielspektrum“

Mit Verweis auf die beiden Vorgänge betonte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) an diesem Dienstag in Berlin: „Der islamistische Terrorismus bleibt weiterhin gefährlich.“ Deutschland sei nach wie vor „unmittelbares Zielspektrum“ islamistischer Terrororganisationen wie dem Islamischen Staat und auch von islamistisch motivierten Einzeltätern. „Wir dürfen radikalen Islamisten in Deutschland daher keinerlei Spielraum lassen.“

Gemeinsam mit dem Präsidenten des Bundesamts für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, stellte Faeser am Dienstag den Verfassungsschutzbericht 2022 vor. Noch immer rechnet der Nachrichtendienst mehr als 27.000 Personen in Deutschland der islamistischen Szene zu.

Laut Bericht ist die islamistische Bedrohung in den vergangenen Jahren durch andere Herausforderungen überlagert worden und „teilweise aus der öffentlichen und medialen Wahrnehmung“ gerückt. Zugleich wurden die Abteilungen „Islamismus“ bei Polizei und Verfassungsschutz seit 2015 massiv aufgerüstet, Ermittler nahmen radikale Moschee-Vereine mit Razzien ins Visier, beschlagnahmten Konten der Szene.

Und doch: Fachleute sind sich weitgehend einig, dass der IS und seine Ableger nicht verharmlost werden dürften. Die Bedrohung gehe weiterhin vor allem von einschlägig motivierten Einzeltätern mit einfach zu beschaffenden Tatmitteln aus, ins Visier gerieten vornehmlich „weiche“ Ziele – also beispielsweise Menschansammlungen im öffentlichen Raum. So hält es der deutsche Nachrichtendienst nun fest.

Der Einsatz etwa von Küchenmessern, der Angriff mit einem gestohlenen Auto als Tatwaffe – es ist eine Strategie der gezielten Anleitung von Attentaten durch die Terrorgruppe IS, die seit dem Zusammenbruch ihres Territoriums nicht mehr über die Vielzahl an Ausbildungslagern, Waffen und Geld für Schmuggel von Attentätern verfügt. „Häufig bleibt unklar, ob die Täter aus einer islamistischen Motivation heraus oder aufgrund einer psychischen Erkrankung handeln“, schreiben die Verfassungsschützer.

Islamisten: Europas Sicherheitsbehörden können Anschläge vereiteln

Auch anderswo in Europa traten gewaltbereite Islamisten im vergangenen Jahr nur selten in Erscheinung. Im Juni kam es etwa in der norwegischen Hauptstadt Oslo zu einem Schusswaffenangriff auf einen Nachtclub, der vornehmlich von Homosexuellen besucht wird. Spektakuläre Anschläge mit etlichen Toten wie auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz (2016), auf den Flughafen und die U-Bahn in Brüssel (2016) oder an verschiedenen Orten in Paris (2015) gab es hingegen schon lange nicht mehr. So wie in Deutschland können auch anderswo immer wieder mögliche Anschläge von den Sicherheitsbehörden vereitelt werden. Im Verfassungsschutzbericht heißt es, Deutschland und Europa stünden weiterhin im Fokus terroristischer Organisationen wie dem Islamischen Staat und Al-Kaida.

Weltweit kamen im vergangenen Jahr zahlreiche Menschen durch islamistische Anschläge ums Leben. Lokale, regionale und global agierende dschihadistische Gruppierungen seien in vielen Teilen der Welt aktiv, betont der Bericht weiter. „Häufig agieren sie als Konfliktpartei in instabilen Staaten und Bürgerkriegsregionen.“ Vor allem in Afrika und Nahost. Die Mehrheit der islamistischen Anschläge konzentriere sich auf afrikanische Konfliktregionen „mit schwachen staatlichen Strukturen, wie Burkina Faso, Mali, Nigeria oder Somalia“.

Die deutschen Sicherheitsbehörden befürchten, dass Gruppierungen wie der IS-Ableger „Islamischer Staat – Provinz Khorasan“ (ISPK) auf Afghanistan verstärkt wieder Ziele im Westen ins Visier nehmen könnten, um sich zu profilieren. Verfassungsschützer Haldenwang gab sich zumindest für das vergangene Jahr erleichtert: „Hier in Deutschland gab es im Jahr 2022 glücklicherweise keine gesichert islamistischen Terror-Anschläge.“ Die Gefahr bestehe dennoch fort, sagte der Behördenchef. „Sie ist real – jeden Tag real.“