London/Berlin. In London bekommen die Befürworter eines Austritts aus der Europäischen Union anscheinend Angst vor der eigenen Courage.
Es ist noch gar nicht so lange her, da gab Theresa May die Hohepriesterin eines harten Brexits. Der Austritt aus der Europäischen Union sollte in einem scharfen Schnitt erfolgen, lautete die Devise. Basta! „Wir streben nicht danach, an Häppchen der Mitgliedschaft festzuhalten“, betonte die britische Premierministerin noch bei einer Rede im
Januar. Dabei spitzte sie den Mund, nickte bei jedem Satz zur Bekräftigung ihrer Thesen. Die Kampfansage an Brüssel schien sie zu genießen. Im Wahlkampf im Mai trat die Brexit-Queen noch resoluter auf. „Wir glauben weiter daran, dass keine Vereinbarung für Großbritannien besser ist als eine schlechte“, stichelte sie.
Dann kam die Unterhauswahl am 8. Juni, zu der May ohne Not aufgerufen hatte – und die sie völlig vergeigte. Die regierenden Konservativen verloren ihre komfortable Mehrheit im Parlament. Die Premierministerin musste eine Koalition mit der nordirischen DUP eingehen. Mittlerweile sind die „Brexiteers“, die monatelang vor lauter Kraft nicht laufen konnten, ziemlich kleinlaut geworden. Aus der einst dröhnenden Ausstiegsbotschaft ist ein verzagtes Lied geworden.
Ein Brexit-Positionspapier nach dem anderen
Seit der vergangenen Woche veröffentlicht die britische Regierung ein Brexit-Positionspapier nach dem anderen. Der Eindruck verdichtet sich: Man scheut die harte Trennung. Vieles soll beim Alten bleiben. Die Propheten des EU-Ausstiegs scheinen Angst vor der eigenen Courage zu bekommen.
Ein Beispiel für eine eindeutige Kehrtwende ist die Rolle des Europäischen Gerichtshofs. In ihrer Grundsatzrede Anfang des Jahres im Lancaster House hatte May eine rote Linie gezogen. Sie wolle nach dem Austritt aus der EU „ein Ende der Jurisdiktion des Europäischen Gerichtshofs in Großbritannien“ sehen, polterte sie. In späteren Äußerungen wiederholte sie das gern. Es dürfe im Königreich „keine Gerichtsbarkeit“ des Luxemburger Gerichts mehr geben. Man wolle schließlich seine eigenen Gesetze machen und sich nicht mehr von Ausländern etwas vorschreiben lassen.
Briten rundern in Justiz-Frage zurück
Am Mittwoch nahm die britische Regierung die Position mit einem einzigen kleinen Wort zurück. Das Brexit-Ministerium veröffentlichte ein Strategiepapier zu der Frage, wie künftige Streitfälle zwischen der EU und Großbritannien geregelt werden sollen. Und da hieß es, man wolle „die direkte Jurisdiktion des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) in Großbritannien beenden“. Was im Umkehrschluss bedeutet: Indirekt kann der EuGH durchaus noch wirksam werden. Zum Beispiel dann, wenn sich eine Schiedsstelle, die aus einem britischen, einem europäischen und einem unabhängigen Richter besteht, nicht einigen kann und daher den EuGH als letzte Instanz anruft.
Ein weiteres Beispiel für eine Rolle rückwärts ist die von Großbritannien neuerdings angestrebte Übergangsregelung bei der Zollunion nach dem im März 2019 erfolgten EU-Austritt. Im Januar hatte May noch gedroht: Sollte sich Großbritannien innerhalb der zweijährigen Verhandlungen nicht mit der EU einigen, dann betreibt das Land eben seinen Außenhandel nach den Regeln der Welthandelsorganisation. Das aber wäre gleichbedeutend mit einem Klippen-Brexit – mit hohen Zöllen und regulatorischen Schranken. Die britische Wirtschaft lief dagegen Sturm.
Die britischen Premiers seit 1940
EU-Staaten kritisieren als „Rosinenpickerei“
Mit Erfolg. Nach einem Positionspapier des Brexit-Ministeriums von vergangener Woche soll es eine rund zwei Jahre lange Interimsperiode für eine Zollunion zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich geben. Ein Modell in dem Papier sieht vor, die bisherigen Regelungen der EU-Zollunion einfach weiterlaufen zu lassen. Allerdings soll es London bereits in dieser Zeit erlaubt sein, neue Handelsabkommen mit Drittländern zu vereinbaren. Manche EU-Staaten kritisieren dies als „Rosinenpickerei“. Denn eine Zollunion ist schließlich dafür da, dass alle Mitglieder bei Importen aus Drittstaaten den gleichen Außenzoll anwenden.
Bei der Regelung der Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland will London, dass sich möglichst wenig ändert. Nach einem Positionspapier der Regierung soll eine „harte Grenze“ mit Schlagbäumen, Grenzposten oder Grenzbeamten vermieden werden. Auch der Personenverkehr soll weiterhin unkontrolliert bleiben, wie das zwischen Nordirland und Irland schon seit 1923 der Fall ist. Für die Kontrolle des Warenaustauschs ist eine elektronische Registrierung vorgesehen, die bereits vor dem Grenzübertritt abgeschlossen ist.
Britische Vorschläge beim Handel bleiben vage
Auf den ersten Blick sieht das durchaus vernünftig aus. Aber Großbritannien hat damit der EU den Schwarzen Peter zugeschoben. Wenn Brüssel etwa in Zukunft die Sorge hätte, dass Gen-Mais aus den USA über Nordirland und Irland den Weg in die EU fände, wäre das kein Problem der Briten, sondern der Gemeinschaft. London will die nordirische Grenzfrage als Druckmittel und als Präzedenzfall dafür nutzen, den Warenverkehr zwischen der Europäischen Union und Großbritannien möglichst „nahtlos und reibungsfrei“ zu gestalten. Denn: Warum sollte, was im nordirischen Derry funktioniert, nicht auch im englischen Dover gehen?
Allerdings sind die britischen Vorschläge für eine künftige Handelsbeziehung mit der EU außerordentlich vage. Sie sprechen eine ganze Reihe von möglichen Szenarien an, ohne ins Detail zu gehen. Da ist viel Wunschdenken, aber wenig Sinn für das Machbare im Spiel. Über die Absichtserklärung, dass man eine „tiefe und spezielle Beziehung“ wolle, kommt man kaum hinaus. Kein Wunder, dass sich der irische Premierminister Leo Varadkar „verwirrt und ratlos“ zeigte, als er über die britischen Handelspläne befragt wurde: „Die Briten scheinen vorzuschlagen“, sagte er in einem Interview mit dem Nachrichtensender Bloomberg, „dass sie all die Vorteile einer EU-Mitgliedschaft haben wollen, aber keine der Verantwortungen und Kosten. Das ist keine realistische Position.“