Brüssel/Berlin. In Brüssel wird erstmals über zentrale Streitpunkte des Brexits verhandelt. Der Zeitdruck ist groß, erwartet wird ein zähes Ringen.

Die Lage ist ernst, aber die beiden Brexit-Scheidungsanwälte lassen sich nichts anmerken. Lächelnd und freundlich plaudernd schlendern EU-Chefunterhändler Michel Barnier und sein britischer Gegenspieler David Davis am Montagmorgen ins Hauptquartier der EU-Kommission in Brüssel. Seite an Seite versichern die silberhaarigen Gentlemen, wie sehr sie sich auf die Verhandlungen über den Austritt Großbritanniens aus der EU freuten. „Es ist unglaublich wichtig, dass wir Fortschritte machen“, meint der Brite Davis, während sein französischer Kollege händereibend ein „An die Arbeit“ ausruft.

Der freundliche Auftakt täuscht. Am ovalen Glastisch ein paar Stockwerke weiter oben im Brüsseler Berlaymont-Gebäude geht es schnell ans Eingemachte. Bei der zweiten Runde der Brexit-Verhandlungen soll erstmals über die konkreten Streitpunkte der künftigen Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU verhandelt werden – die erste Runde Mitte Juni war eher ein höfliches Abtasten. Jetzt stehen auf Drängen der EU drei heikle Themen auf der Tagesordnung: Das Bleiberecht für 3,2 Millionen EU-Bürger in Großbritannien und die 1,2 Millionen Briten in der EU, die finanziellen Pflichten Großbritanniens und die künftige EU-Außengrenze zwischen dem britischen Nordirland und der Republik Irland.

Erwartet wird ein zähes Ringen

Am Donnerstag müssen die Unterhändler erste Ergebnisse präsentieren. Mit dabei sind Barniers Stellvertreterin Sabine Weyand, eine deutsche EU-Spitzenbeamtin, und der britische Staatssekretär Oliver Robbins. Seit Montag tagen auch Experten in Arbeitsgruppen. Erwartet wird ein zähes Ringen: Der britische Außenminister Boris Johnson hatte vorige Woche die finanziellen Forderungen der EU von bis zu 100 Milliarden Euro als „Wucher“ bezeichnet und erklärt, das könnten sich die Kontinentaleuropäer „in die Haare schmieren“. In Brüssel herrscht der Eindruck vor, die Briten seien schlecht vorbereitet, hätten noch immer keine klare Linie und unterschätzten die Herausforderungen.

„Jetzt beginnt die harte Arbeit“, mahnt Barnier, „die Uhr tickt.“ Während Brüssel sehr präzise Erwartungen geäußert hat, liegt aus London bisher nur für eine der drei Topstreitfragen ein Angebot vor: Alle rund drei Millionen EU-Bürger, die in Großbritannien leben und arbeiten, sollen demnach die Chance bekommen, sich um einen „gesicherten Status“ im Königreich zu bewerben, um zu bleiben. Das hält die EU für völlig unzureichend – sie will das gleiche Bleiberecht und Schutzniveau für ihre Bürger verankern wie im EU-Recht.

Wer wacht über die Rechte von EU-Bürgern?

Man werde nicht zulassen, dass die britische Premierministerin Theresa May die Betroffenen als Faustpfand nehme, heißt es. Führende EU-Parlamentarier drohen schon mit einem Veto gegen den Brexit-Vertrag, wenn London hier nicht nachbessere. Zu den Forderungen von Parlament und Kommission bei diesem Thema gehört, dass auch künftig der Europäische Gerichtshof (EuGH) im Streitfall über die Rechte von EU-Bürgern auf der Insel wachen soll.

London dagegen will nur noch laufende EuGH-Verfahren abschließen, ansonsten soll der Brexit die Zuständigkeit des EU-Gerichts im Königreich beenden. Chefunterhändler Davis bemüht ein Beispiel aus der Fußballwelt: „Wenn ich Manchester United bin und der andere Real Madrid – werde ich dann Real Madrid den Schiedsrichter bestimmen lassen?“ Die britische Regierung schlägt vor, stattdessen ein unabhängiges Schiedsgericht für die EU-Bürger einzurichten.

Umstritten: Finanzielle Pflichten Londons aus EU-Zeit

Ähnlich umstritten sind die finanziellen Pflichten Londons aus der gemeinsamen EU-Zeit. Barnier hat intern die Forderungen auf 60 bis 100 Milliarden Euro beziffert, etwa für Zusagen zum EU-Haushalt oder für Pensionspflichten. Offiziell will er keine Summe nennen, doch bezeichnet Barnier die Zahlungspflicht als „überragend wichtig“. In London wird die Höhe der Austrittsrechnung als indiskutabel zurückgewiesen.

Aber immerhin hat die Regierung vergangene Woche in einem Schreiben an das britische Parlament erstmals anerkannt, dass es auch nach dem Brexit finanzielle Verpflichtungen gegenüber Brüssel geben werde – und umgekehrt auch Ansprüche an die EU. Viel Zeit für die Klärung ist nicht: Die EU-Kommission will die Streitfragen möglichst bis Oktober abschließen. Erst wenn dieser Teil der Scheidungsverhandlungen beendet ist, will Brüssel überhaupt darüber reden, wie die künftige Partnerschaft ausgestaltet werden soll.

Premier Theresa May ist angeschlagen

Doch schon Ende 2018 muss der Brexit-Vertrag unter Dach und Fach sein. Auf der britischen Seite mehren sich Stimmen, eine mehrjährige Übergangsphase zu vereinbaren, womöglich mit weiteren Beitragszahlungen. Ins Gespräch brachte diese Lösung zuletzt Finanzminister Philip Hammond, der ein Befürworter eines „weichen Brexit“ mit weiterem Zugang zum EU-Binnenmarkt ist.

Das Wirtschaftswachstum in Großbritannien ist schon eingebrochen, Banken und Industrie werden ungeduldig, die Befürworter einer EU-Mitgliedschaft organisieren Protestmärsche – die Debatten auf der Insel haben sich verändert, die angeschlagene Premierministerin May ist unter Druck. Schon wird auf dem Kontinent über ein Ende ihrer Regierung spekuliert. SPD-Europaexperte Norbert Spinrath sagt nach Gesprächen in London: „Ich habe den Eindruck, dass May den Winter nicht überleben wird.“