London. Ein Jahr nach ihrem Amtsantritt hat die britische Premierministerin kaum noch Unterstützung. Sie ist eine Regierungschefin auf Zeit.

  • Vor einem Jahr trat Theresa May das Amt der britischen Premierministerin an
  • Nach den vorgezogenen Neuwahlen ist May gezeichnet vom Verlust der Macht
  • Die Konservativen haben intern entschieden, dass May nach Ende der Brexit-Verhandlungen abgelöst werden soll

Wenn Theresa May in diesen Tagen in der Öffentlichkeit auftritt, macht sie einen sehr fragilen Eindruck: Trifft eine Frage sie zum Beispiel unvorbereitet, dann kann die Maske fallen. Dann hat die 60-Jährige ihre Mimik nicht unter Kontrolle, lacht nervös, wirkt zerfahren, sogar vergesslich.

Die Frau, die heute vor einem Jahr das Amt der britischen Premierministerin antrat, ist gezeichnet vom Verlust der Macht. In den vorgezogenen Neuwahlen Anfang Juni hatte sie ihre absolute Mehrheit verloren. Sie ist nur noch eine Premierministerin auf Zeit. In die nächsten Wahlen, geplant für Juni 2022, wird sie ihre Partei auf keinen Fall führen.

May wurde bereits als neue „Eiserne Lady“ gehandelt

Wie anders war doch das Bild am 13. Juli 2016, als May vom Buckingham-Palast zurückkam, wo sie von der Queen zuvor zur Premierministerin bestellt worden war. Vor der Tür zur Nummer 10, Downing Street, hielt sie eine kurze, aber programmatische Rede, in der sie den Briten versprach, eine Regierung zu führen, für die soziale Gerechtigkeit im Mittelpunkt steht.

Und dem europäischen Publikum signalisierte May, dass Großbritannien nach dem Chaos, das auf das Brexit-Referendum gefolgt war, wieder handlungsfähig sei. Sie wirkte souverän und kompetent. Viele verglichen sie mit der ehemaligen Premierministerin Margaret Thatcher.

Einiges verbindet Theresa May mit Margaret Thatcher – oder mit Angela Merkel

Davon hielt May allerdings gar nichts. „Ich bin meine eigene Frau“, protestierte sie, „ich bin Theresa May und ich denke, dass ich die beste Person bin, um Premierministerin dieses Landes zu werden.“ Auch den Vergleich mit der deutschen Kanzlerin Angela Merkel wollte die kinderlose Pfarrerstochter nicht gern hören.

Doch abgesehen von politischen Differenzen gibt es eine ganze Reihe von Charakteristiken, die May mit Thatcher oder auch mit Merkel verbinden würden: Kompetenz, Verhandlungsgeschick, Nüchternheit, Nervenstärke, Detailwissen – und nicht zuletzt ein stählerner Machtwille.

Als sie zwölf Jahre alt war, trat sie den Tories bei

Die Frau, die schon im Alter von zwölf Jahren der Konservativen Partei beitrat, ist politisch nicht einfach zu verorten. Sie vertritt stramm rechte Positionen bei klassischen konservativen Politikfeldern wie Verteidigung, Einwanderung oder Sicherheit. Sie outete sich aber auch als sozialliberal, als sie vehement für die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe stritt. Und sie war diejenige, die bei den Konservativen begann, die Partei in die Mitte der Gesellschaft zu holen. „Wisst ihr“, sagte sie 2002, „wie die Leute uns nennen? Die fiese Partei.“

Das hat sich mittlerweile geändert. In ihrer Rede auf dem Parteitag der Konservativen im letzten Oktober distanzierte sich May von Thatcher. May wies die „ideologischen Schablonen der sozialistischen Linken und libertären Rechten“ zurück und erklärte: „Regierung kann und soll eine Kraft des Guten sein.“ Sie bot sich als Anwalt der kleinen Leute an, die sich von der Globalisierung und den Eliten im Stich gelassen fühlen.

Ihr Projekt hieß „Mayismus statt Marxismus“

Richtig links klang May, als sie sagte, sie wolle ein Land, „wo jeder nach den gleichen Regeln spielt und wo jede einzige Person, ungeachtet, was ihr Hintergrund oder ihre Eltern sind, eine Chance bekommt, sich zu verwirklichen.“ Das Projekt „Mayismus statt Marxismus“ war klar darauf angelegt, Labour das Wasser abzugraben.

Der Plan ging nicht auf. Kurz nachdem Theresa May Ende März ihren Brief nach Brüssel schickte, in dem Großbritannien offiziell den Austritt aus der Europäischen Union erklärte, trat die Premierministerin wieder vor die Tür der Downing Street und kündigte in einer Ansprache an, vorgezogene Neuwahlen abhalten zu wollen. Die seien notwendig, sagte May, um „die Sicherheit und Stabilität“ für erfolgreiche Brexit-Verhandlungen zu sichern.

Neuwahlen – ein guter Plan? Das schien nur so

Jeder hielt es für einen brillanten Plan: May holt sich angesichts einer am Boden liegenden Labour-Partei eine satte absolute Mehrheit und hat dann Handlungsfreiheit. Es kam anders. Labour erzielte 40 Prozent, nur zwei Prozent weniger als die Konservativen. Die Leute entschieden sich für eine der beiden großen Volksparteien und vergaßen die kleinen.

Die Polarisierung der Gesellschaft, nicht zuletzt aufgrund des Brexit, vertiefte sich. Und ein zusätzlicher und nicht unerheblicher Faktor beim Wahlausgang war die persönliche Schwäche von May. Sie verweigerte sich Fernsehdebatten und Diskussionen. Wenn sie doch einmal von Bürgern gestellt wurde, vermied sie klare Antworten.

So reagiert das Netz auf die Wahl in Großbritannien

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    Die EU wird allmählich ziemlich ungeduldig

    Jetzt wird der Brexit ihr Schicksal. Die Konservativen haben intern entschieden, dass May bis zum Ende der Verhandlungen als Premierministerin verbleibt, aber danach, rechtzeitig vor den nächsten Wahlen, abgelöst werden soll. Und es wird langsam eng: Mit Blick auf die erste volle Verhandlungsrunde nächste Woche forderte EU-Chefunterhändler Michel Barnier die Regierung in London auf, vorher klare Positionen vorzulegen.

    Die EU-Seite habe zu neun vorrangigen Themen – vom Bürgerschutz über die Brexit-Schlussrechnung bis zur Mitgliedschaft in der Atomgemeinschaft Euratom – ihre Vorstellungen unterbreitet. „Wir müssen jetzt die britische Haltung zu jedem dieser Pro­bleme wissen!“ Bislang habe London lediglich ausbuchstabiert, wie es mit den 3,2 Millionen EU-Bürgern in Großbritannien umgehen will. Deren Rechte würden damit nicht hinreichend geschützt, kritisierte Barnier.

    Großbritannien soll seine finanziellen Verpflichtungen als EU-Mitglied anerkennen

    Vor allem aber müsse das Vereinigte Königreich nun endlich unmissverständlich anerkennen, dass es zu den finanziellen Verpflichtungen stehe, die es als EU-Mitglied eingegangen sei. „Das ist die Basis für Gespräche über unser künftiges Verhältnis.“ Ein Jahr nach Antritt ist Theresa May zwar im Amt, aber nicht mehr an der Macht.