Berlin. Vor einem Jahr raste ein Islamist mit einem Lkw in eine Menschenmenge. Die Strategie ist simpel und brutal. Und hat Nachahmer gefunden.

Es war eine Anleitung zum Massenmord. „Um ein maximales Gemetzel zu erreichen, musst Du so viel Geschwindigkeit erreichen, wie Du kannst, während Du immer noch gute Kontrolle über dein Fahrzeug hast.“ Sechs Jahre lang fühlt sich kaum jemand auf den Plan gerufen. Bis zum 14. Juli 2016:

Bis Mohammed Lahouaiej Bouhlel in Nizza in Aktion tritt. Es ist 22.45 Uhr, als er den weißen Renault-Lastwagen Typ „Midlum 300“ auf die für den Verkehr gesperrte Strandpromenade steuert und Fahrt aufnimmt. Der 14. Juli ist der französische Nationalfeiertag, 30.000 Menschen schlendern entlang der Promenade, von hier hat man die beste Sicht auf das Feuerwerk. Als der Laster heranrast, sind viele von ihnen chancenlos, 86 Passanten sterben, mehr als 400 werden verletzt.

Der IS hatte für die Methode mit einem Lkw geworben

„Die ultimative Mähmaschine“, wie sie menschenverachtend die Propagandisten des Terrornetzwerks „Islamischer Staat“ (IS) bereits 2010 in ihrem Onlinemagazin genannt hatten, wird Schule machen. Auf Nizza folgen Attentate in Berlin im Dezember mit zwölf Todesopfern, im März 2017 in London (vier Tote), Anfang April in Stockholm (fünf Tote) und zuletzt am 3. Juni erneut in der britischen Hauptstadt (acht Tote). Alle nach demselben Muster, mit geliehenen, gekaperten Fahrzeugen.

Nach Angaben des norwegischen Terrorismusexperten Petter Nesser vom Norwegian Defence Research Establishment machte dieser Typus einer Attacke zwischen 2014 und 2016 in Europa die Hälfte aller Anschläge aus.

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    Auch Einzeltäter sind an ein Netzwerk angebunden

    Nizza ist ein Einschnitt, vor allem wegen der Opferzahl. Die Vorgehensweise, der sogenannte Modus Operandi, treibt auch ein Jahr danach Polizei und Geheimdienste um, zuletzt in Hamburg sogar die Staats- und Regierungschefs der G20-Staaten: „Wenig kostenintensive Angriffe durch kleine Zellen und Einzelpersonen, die mit kleinen und über eine Vielzahl von Zahlungswegen übertragenen Geldmitteln finanziert werden, stellen eine zunehmende Herausforderung dar“, wie sie in einer Erklärung warnen.

    Wer ein Flugzeug entführen, eine Bombe deponieren oder wie in Paris eine Zeitungsredaktion und einen Club angreifen will, braucht einen Plan, Waffen, Sprengstoff, Kenntnisse, in der Regel auch Komplizen. Das kostet Zeit und Geld, setzt Mitwisser und Kommunikation voraus. Das alles verursacht wiederum Spuren. Terrorgruppen wie al-Qaida und der „Islamische Staat“ planten ihre großen Anschläge in New York oder Paris wie Logistikunternehmen.

    Die Attentäter von New York nahmen sogar unerkannt Flugstunden. Radikalisierte Einzelkämpfer hingegen benötigen nicht viel. Alltagsgegenstände wie Messer oder Äxte reichen schon aus. Anis Amri machte sich für den Anschlag in Berlin nicht erst die Mühe wie sein tunesischer Landsmann in Nizza, einen Lastwagen zu mieten – Amri kidnappte einfach das Fahrzeug eines polnischen Spediteurs.

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      In vielen Städten wurden Poller zum Schutz errichtet

      Man habe es mit einem Typus des Attentäters zu tun, den „wir als Sicherheitsbehörden nur schwer erkennen können, da uns häufig die Ansatzpunkte fehlen“, räumt der Präsident des Bundeskriminalamts (BKA), Holger Münch, ein. Das Phänomen ist nicht neu: In Israel, aber auch in London und Ottawa gab es 2013 und 2014 Tote durch Attacken mit Fahrzeugen.

      Seit 2014 nimmt die Zahl der „Low-Budget-Attacken“ oder „Low-Involvement-Angriffe“, Anschläge mit geringem Aufwand und wenig Geld, zu. In den vergangenen zwei Jahren ist den Behörden indes nicht viel Neues zum Schutz eingefallen. Die sichtbarste Reaktion sind die Poller, die seither an Marktplätzen aufgestellt werden.

      Doch die potenziellen Waffen der Dschihadisten sind vielfältig – und kaum rechtlich zu kontrollieren. Anders etwa als Waffenhandel. Dabei wird auch beim Attentäter von Nizza deutlich: So isoliert agieren die vermeintlichen Einzeltäter nicht.

      Auch Bouhlel hatte laut Ermittler Kontakte zum IS, wurde unterstützt von einem Netzwerk an Extremisten. Es ist nach Ansicht von Petter Nesser nur sehr schwer, genaue Typen von Terroristen festzuschreiben. Mal nutzen sie Messer oder Handfeuerwaffen, dann wieder Bomben oder Autos. „Der Modus Operandi wechselt je nach Kapazitäten der Terroristen und den Gegenmaßnahmen, die der Staat trifft, den die Extremisten bekämpfen.“

      Zwei Drittel der Deutschen hat Angst vor Anschlägen

      Die Botschaft der Terroristen ist, Angst zu verbreiten, und zeige leider Wirkung, „die Dauerschleifen in der Medienberichterstattung tun ihr Übriges“, beklagt BKA-Mann Münch. Es gibt eine objektive Realität. Ihr zufolge ist die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Terroranschlags zu werden, „relativ gering“ (Münch). Durch Selbstmord sterben in Deutschland Jahr für Jahr an die 10.000 Menschen, dreimal so viel wie bei Verkehrsunfällen und hundertfach mehr als bei Terroranschlägen. Aber es gibt zugleich eine subjektive Realität, Angst und Wirklichkeit „klaffen weit auseinander“, weiß der BKA-Präsident.

      Nach dem Märzanschlag in London befürchteten in einer INSA-Umfrage zwei Drittel der Deutschen (67,5 Prozent), dass es auch in Deutschland zu Anschlägen kommt. Mehr als 60 Prozent schätzten die Befugnisse der Polizei zur Terrorabwehr als zu gering ein. Nach fast jedem Anschlag werden Gesetze verschärft – auch nach Nizza –, und im Wahlkampf versprechen die großen Parteien „einen starken Staat“ (CDU) und versprechen zusätzliche 15.000 Polizistenstellen.

      Nesser kritisiert, dass es nach 2014 lange dauerte, bis der Staat auf die Hunderten Dschihad-Ausreisen aus Europa Richtung Syrien und Irak reagiert hatte. Viele hatten sich in der salafistischen Szene radikalisiert. Und manche, die nun im Dschihad sind, könnten in Zukunft die Strippenzieher für Attentate wie in Nizza, Paris oder Berlin sein.