Geesthacht/Pinneberg. Der Kieler Regierungschef Torsten Albig setzt vor der Wahl in Schleswig-Holstein am 7. Mai auf den Amtsbonus. Wird das ausreichen?

Wer in Schleswig-Holstein in die Politik geht, ist selbst schuld. Kein anderes Bundesland kennt diese Dichte an Tragödien, Affären und Intrigen, in keinem anderen Land ist Politik so sehr mit Rätseln und Mysterien verbunden.

Da ist noch immer die Affäre um Uwe Barschel und die Frage, wie der CDU-Politiker nach seinem Rücktritt als Ministerpräsident 1987 in einer Genfer Badewanne zu Tode kam. Da ist auch die Frage, wer im Jahr 2005 der damaligen SPD-Regierungschefin Heide Simonis die entscheidende Stimme zur Wiederwahl verweigerte. Der „Heide-Mörder“ ist nicht enttarnt – sitzt er oder sie womöglich noch im Landtag?

Nicht zu vergessen die Affäre des CDU-Hoffnungsträgers Christian von Boetticher mit einer 16-jährigen Schülerin, über die der damalige Spitzenkandidat der Konservativen vor sechs Jahren stürzte. Dass jene zu Turbulenzen neigende Nord-CDU in diesem Winter kurzfristig ihren Spitzenkandidaten zur Landtagswahl austauschte, erscheint im Land der politischen Dramen wie eine Randnotiz. Es gibt zweifellos friedlichere Orte für Politiker als Schleswig-Holstein.

„Mehr Gerechtigkeit für alle“ – Wer will das nicht?

Den Umfragen zufolge hat Albig beste Chancen im Amt zu bleiben.
Den Umfragen zufolge hat Albig beste Chancen im Amt zu bleiben. © dpa | Carsten Rehder

Wie trügerisch ist die momentane Ruhe vor der Landtagswahl am 7. Mai? Geesthacht an der Elbe, eine alte Turnhalle, gut 100 Bürger der Kleinstadt haben sich versammelt. Der SPD-Ministerpräsident steht auf dem Podium, er trägt einen anthrazitfarbenen Anzug, dazu ein dunkles Karohemd. Hinter ihm die rote Stellwand mit dem Schriftzug „Mehr Gerechtigkeit für alle“. Wer will das nicht?

Dieser Abend ist ein Heimspiel für Torsten Albig: Die örtliche SPD-Bundestagsabgeordnete stellt ihm freundliche Fragen, er kann ausführlich antworten. Der 53-Jährige beschreibt seinen sozialen Aufstieg als Kind eines CDU-wählenden Soldaten und einer Kassiererin. Er spricht über die Flüchtlinge und erklärt, warum er Afghanistan nicht für sicher hält und Abschiebungen dorthin ablehnt.

Schon ist Albig bei den Kita-Gebühren, die er weiter senken will („Sonst siedeln sich die Familien in Hamburg an“), dann bei den Windrädern („Gesellschaften, die verlernen etwas auszuhalten, werden nicht mithalten“), dann bei den Schulen („Wir haben die Unterrichtsversorgung ausgebaut“).

Schleswig-Holsteiner sind die zufriedensten Deutschen

Spannend wird der Abend zu keiner Zeit, kein Wunder: Dem Wahlkampf fehlt das Aufregerthema. Dem Land geht es finanziell besser als früher, es kamen auch weniger Flüchtlinge als befürchtet; und die Schleswig-Holsteiner sind laut Glücksatlas ohnehin die zufriedensten Deutschen.

Den Umfragen zufolge hat Albig beste Chancen im Amt zu bleiben. Seine SPD regiert das Land seit 2012 gemeinsam mit den Grünen und dem Südschleswigschen Wählerverband SSW, der Partei der dänischen Minderheit, die von der Fünf-Prozent-Hürde befreit ist. Es waren fünf recht geräuschlose Jahre, verglichen mit dem, was die 2,9 Millionen Bürger zwischen Nord- und Ostsee schon alles erleben durften. Nach dem Willen Albigs kann es in der Konstellation so weitergehen.

Albig und Stegner – zwei Alphatiere in Arbeitsteilung

Ministerpräsident Torsten Albig mit dem SPD-Fraktionsvorsitzenden Ralf Stegner.
Ministerpräsident Torsten Albig mit dem SPD-Fraktionsvorsitzenden Ralf Stegner. © dpa | Carsten Rehder

Weil die Zeiten gerade so arglos erscheinen, macht es sich der frühere Kieler Oberbürgermeister und Sprecher des damaligen Bundesfinanzministers Peer Steinbrück in der Rolle des sanften Landespapas gemütlich. Nichts scheint momentan von Albigs scharfzüngiger und provozierender Seite auf. Bis zum Wahlkampf genoss er es durchaus, in regelmäßigen Abständen bundespolitisch gegen den Strich zu bürsten: Vor zwei Jahren stellte er infrage, ob die SPD überhaupt einen Kanzlerkandidaten gegen die „ganz ausgezeichnete“ Angela Merkel aufstellen solle. Ein andermal forderte er, dass alle Deutschen eine Straßen-Abgabe von 100 Euro zahlen sollen. Für beide Vorschläge wurde er von Parteifreunden verbal verprügelt.

Nun gibt es sowohl mit Martin Schulz tatsächlich einen Kanzlerkandidaten als auch den Beschluss für eine Pkw-Maut – und Albig will keinen neuen Ärger, wo es doch gerade so gut läuft. Jetzt jedenfalls nicht. Im Gewand des Küstenpräsidenten überlässt er den politischen Nahkampf ohnehin lieber seinem bundesweit umtriebigen Landesvorsitzenden und Fraktionschef Ralf Stegner. Der ist im Wahlkampf genauso präsent wie der Regierungschef und tut alles dafür, die Linkspartei weiterhin aus dem Parlament zu halten. Die Arbeitsteilung der ungleichen Alphatiere funktioniert offenbar.

CDU-Kandidat Günther hofft auf Jamaika-Bündnis

Ohne derartige Schützenhilfe muss Daniel Günther auskommen. Der 43-Jährige Landes- und Fraktionschef der CDU wurde erst im Februar offiziell zum Albig-Herausforderer nominiert. Sein Vorgänger, der Bundestagsabgeordnete Ingbert Liebing, fühlte sich von seiner Partei im Stich gelassen und zog die Notbremse. Nun also Günther. Dessen Hoffnung, Albig abzulösen, speist er aus der theoretischen Chance, mit FDP und Grünen ein Jamaika-Bündnis einzugehen.

Die Liberalen um Wolfgang Kubicki sind dabei nicht das Problem, eher die Grünen, die das Bündnis mit der SPD fortsetzen möchten, sich aber die Tür zur CDU offen halten. Günther hat erstmal andere Sorgen: Er muss bekannter werden. Bis zum Wahltag will er mehr als 2000 Hausbesuche absolviert haben, 45 Sekunden an jeder Tür – zusätzlich zum üblichen Programm: Abendauftritte, Straßenwahlkampf, Firmenbesuche.

Kontrahent nennt Albig „politisches Neutrum“

Manche dieser Tage laufen gut für Günther, andere sind eher zum Abhaken. So wie dieser: Er ist nach Pinneberg in den nördlichen Speckgürtel Hamburgs gekommen, um eine metallverarbeitende Firma zu besuchen. Klassischer Mittelstand, 60 Angestellte, der Firmenchef ein CDU-Mann. Aber die Lokalpresse ist nicht da. So sieht niemand außer den Angestellten, dass Günther in der Stadt war. Bei solchen Terminen gibt es nichts zu gewinnen, weil er seine Botschaften nicht unterbringen kann: Etwa die Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium, mehr Bildung, mehr Infrastruktur. „Da ist die Regierungsbilanz Mist“, sagt Günther in einer kurzen Pause zwischen den Terminen. Er sitzt in einem Pinneberger Café bei einem Stück Marzipantorte und Cappuccino.

Es mit Albig aufnehmen zu müssen, macht ihm nicht wirklich Spaß. Der Amtsinhaber erscheint ihm kaum greifbar. „Wenn ich was von der Regierung will, dann spreche ich mit Stegner“, berichtet der Oppositionsführer. Für ihn sei Albig ein „politisches Neutrum“, bei dem er sich immer frage: „Warum macht der eigentlich Politik?“ Mit diesem Stil störe der Ministerpräsident die Leute nicht, bemerkt Günther. Am Abend will Günther seine Botschaften endlich vor großem Publikum, also 100 bis 200 Wählern, loswerden. Doch auf dem Weg macht der Kreislauf nicht mit, ihm wird übel. War es die Marzipantorte? Den Auftritt sagt er spontan ab. Am nächsten Morgen geht es ihm besser.

In Geesthacht in der Turnhalle werden alle allmählich müde. Mehr als zwei Stunden steht Torsten Albig nun auf dem Podium. Inzwischen sind auch Fragen aus dem Publikum erwünscht, und der Ministerpräsident erklärt einem Rentner, dass man sich über Baustellen nicht ärgern, sondern freuen sollte – „weil die Gesellschaft da baut“. Dann das Schlusswort: „Gehen Sie wählen!“ Es sei sein Traum, dass es „die Rechtspopulisten“ nicht in den Landtag schaffen. Der Abend endet, ohne dass Albig die AfD beim Namen nennen musste. Auch der Name Martin Schulz fällt kein einziges Mal. Natürlich wird der Kanzlerkandidat zum Wahlkampffinale kommen. Aber gewinnen, das will Albig bitteschön allein.