Berlin. Der Soundtrack der Radikalen: Mit Musik mobilisieren Neonazis, Linksextremisten und Islamisten die Szene – und verbreiten Propaganda.

Als Rolf Züllig an diesem Oktobersamstag noch nichts ahnend beim Kick der Fußballer im Nachbarort zuschaut, sind mehrere Tausend Neonazis vor allem aus Deutschland in Autos und Kleinbussen auf dem Weg in das Schweizer Örtchen Unterwasser. Angemeldet war das Konzert in der Eventhalle als ein Abend für Nachwuchsbands. Doch es kamen andere Bands: Stahlgewitter, Amok, Frontalkraft, Ekzess – einschlägige Neonazi-Gruppen aus Deutschland und der Schweiz. Züllig, Gemeindepräsident auch für das Dorf Unterwasser, wird später sagen: „Wir wurden einfach ausgetrickst.“

Rund 5000 Neonazis grölen am Abend Refrains der Lieder in der Halle mit. Sie tragen Szene-Kleidung etwa von „Thor Steinar“, feiern in den sozialen Netzwerken das „Hammer-Konzert“ und die „geile Aktion“. Die zwölf Polizisten vor Ort schauen zu – für ein Eingreifen ist es zu spät. Die Sicherheitsbehörden halten später fest: Es war das größte Rechtsrock-Konzert der vergangenen 20 Jahre in Europa.

Über Musik lassen sich politische Botschaften gut transportieren

Musik spielt für Extremisten eine enorm wichtige Rolle, heben Verfassungsschützer und Experten hervor. „Musik weckt Emotionen. Und auf der Gefühlsebene lassen sich politische Botschaften ganz hervorragend transportieren“, sagt Thomas Kuban, der jahrelang verdeckt auf Rechtsrock-Konzerten recherchierte. Was für Neonazis gilt, trifft auch auf Islamisten und Linksextreme zu: Jede Szene hat ihre eigene Musik, sie stärkt die Bindung mit der Gruppe und verbreitet Ideologie in Akkorden, Konzerte schaffen Gemeinschaft. Es ist der Soundtrack der Radikalen – Begleitmusik für ihren Hass.

Und diese Begleitmusik wird immer lauter. Mit 199 Auftritten Musikgruppen und Künstler hat die Zahl der rechtsextremistischen Konzerte 2015 einen neuen Höchststand seit 2012 erreicht, hält das Bundesamt für Verfassungsschutz fest. Für 2016 gibt es noch keine Zahlen. Und Behnam Said vom Hamburger Landesamt sagt über die Islamisten in Deutschland: „Bereits seit mehreren Jahren ist eine zunehmende Bedeutung dschihadistischer Hymnen für die deutsche Szene festzustellen“. Said hat gerade ein Buch über die Rolle von sogenannten „Naschids“ (vertonte Gedichte) für die Mobilisierung der Dschihadisten geschrieben.

Noch nie war es leichter, Musik zu verbreiten

Noch nie war es für Extremisten leichter, die Propaganda in ihren Liedern über das Internet zu verbreiten: über Facebook oder Youtube, in Foren oder Chatgruppen bei verschlüsselten Handy-Nachrichtendiensten wie Telegram oder WhatsApp. Hier posten Islamisten Gesänge ihrer Hassprediger, hier organisieren Neonazis ihre Konzerte. Noch nie war es schwieriger für Polizei und Geheimdienst, diese Musikszenen im Blick zu behalten.

Offensichtlich konnten die Sicherheitsbehörden auch das Konzert in der Schweiz nicht verhindern – obwohl Neonazis zu Tausenden aus ganz Europa anreisten. Bereits Monate zuvor hatte die Mobilisierung für das Konzert im Internet begonnen – mit einem Video: „Im Süden Deutschlands braut sich was zusammen“, hieß es da noch in dem kurzen Clip. Dazu Gewitterwolken und Blitze, plus ein Datum: 15.10.2016. Mehr nicht, vorerst. „Konspirativ“ und „professionell“ wurden Informationen in der Szene verbreitet, sagen Sicherheitsleute. Vor allem über den Onlinehandel „Das Zeughaus“ für rechte Musik, Kartenbestellung unter: „live.im.reich@mail.de“. Treffpunkt der Neonazis war zunächst der Raum Ulm, von dort aus erhielten sie weitere Angaben über eine „Infonummer“, die von den Organisatoren noch kurz vor Beginn der Veranstaltung geändert wurde. Auch über Facebook und WhatsApp-Gruppen teilten die Neonazis den eigentlichen Ort des Konzerts in der Schweiz mit – und fuhren weiter. Ein Neonazi aus Thüringen soll der Veranstalter gewesen sein. Offenbar ließen die deutschen Grenzbeamten die Rechtsextremen passieren.

NPD verteilte auf Schulhöfen CDs

„Rockmusik, Hardcore und Hip-Hop sind unter Jugendlichen beliebt. Also ist solche Musik besonders geeignet, um junge Leute anzusprechen“, sagt Experte Kuban. Die rechtsextreme NPD verteilte auf Schulhöfen CDs mit Liedern von rechten Skinhead-Bands. „Freiheit statt BRD“ stand auf dem Cover, im Internet können Anhänger Lieder kostenlos herunterladen. Dann würden Rechtsextreme die Jugendlichen mit öffentlichen Kundgebungen locken, sagt Kuban. Abgesehen von ein paar Redebeiträgen seien das vor allem Konzerte. Über die Musik legt die Szene den Draht zu neuen Anhängern. Die Poesie des Hasses ist ihr Lockmittel.

Das analysiert der Islamwissenschaftler Said auch für die Hymnen der Dschihadisten. Doch die „Naschids“ sollen noch mehr: Islamisten besingen Opferbereitschaft und Standhaftigkeit gegenüber dem Feind. In einem Gesang des mittlerweile zur Terrorgruppe „Islamischer Staat“ ausgereisten Berliner Extremisten Denis Cuspert heißt es über die „Ungläubigen“: „Allah hat versprochen, auf Ewigkeit werden sie brennen in der Finsternis in Dunkelheit“. Ziel eines jeden Dschihads sei das Paradies, das Diesseits besingt Cuspert als „verdorben“ und „falsch“.

Trockene Ideologie, emotional verpackt

Es sind Parolen, die radikale Salafisten auch in Predigten in Moscheen oder Privatwohnungen verbreiten. In Gesängen verpacken sie trockene Ideologie in einen emotionalen Ton. Dabei gilt westliche Popmusik unter Salafisten als „haram“ – verboten. Bilder im Internet zeigen, wie Dschihadisten in Libyen Trommeln und Saxophone verbrennen. Eltern von ausgereisten Jugendlichen aus Deutschland erzählen manchmal, dass ihre Kinder irgendwann im Auto einfach das Radio ausschalteten und die Musik als „unislamisch“ verurteilten.

Doch „Naschids“ sind erlaubt und werden sogar als Soundtrack für Propaganda-Videos des IS über Schlachten in Syrien und Irak eingesetzt. Der Erfolg der Terrorgruppe habe den Trend der dschihadistischen Hymnen in Deutschland noch einmal verstärkt, sagt Verfassungsschützer Said. Mit den Niederlagen des IS gegen die Alliierten ginge die Verbreitung allerdings allmählich zurück. Und doch hält Said in seinem Buch fest: „In der Szene ist seit einigen Jahren ein regelrechter Wettlauf um die Verbreitung der kulturellen Erzeugnisse zu beobachten.“ Die Hymnen sind eine Säule der aggressiven Dschihad-Kultur.

Hitlergruß und rassistische Parolen

Aggressiv sei nach Aussagen von Anwohnern auch das Konzert im schweizerischen Unterwasser gewesen. Hitler-Grüße wurden gezeigt, rassistische Parolen gebrüllt. Der Veranstalter verkaufte CDs, Bier, Wurst und T-Shirts von dem „Rocktoberfest“ der Neonazis. Mit Geld von diesen Konzerten finanzieren Extremisten auch die Szene, übernehmen etwa Prozesskosten für angeklagte „Kameraden“, drucken Flyer oder finanzieren Kundgebungen. 30 Euro soll das Ticket für das „Rocktoberfest“ gekostet haben. Bei 5000 Besuchern erzielten die Extremisten allein an diesen einem Abend Einnahmen von 150.000 Euro.