Singen. In Gefängnissen sitzen immer mehr Rentner. Die Resozialisierung ist schwierig. Viele wollen gar nicht mehr in die Freiheit zurück.

Wenn sie nicht gerade Gurken in der Gefängnisküche schälen oder in der Gruppe ihr Gedächtnis trainieren, sitzen die Männer gerne auf der Bank, lassen sich die Sonne auf die ergrauten Häupter scheinen und beobachten die Fische im Teich. Sie könnten als ganz normale Senioren durchgehen, die ihren Nachmittag im Park verbringen. Doch die idyllisch anmutende Grünanlage ist kein öffentlicher Park, sondern der Gefängnishof der Justizvollzugsanstalt in Singen am Bodensee. Dort befindet sich Deutschlands erster Seniorenknast – und wirft ein Schlaglicht auf den sich verändernden Strafvollzug.

In deutschen Gefängnissen sitzen immer mehr Rentner ein. Allein in den vergangenen Monaten fasste die Polizei: einen 68-jährigen Schweriner, der reihenweise Autos aufgebrochen hat; die 80-jährige „Drogen-Oma“ aus Gelsenkirchen, die ihrem Sohn half, Heroin aus den Niederlanden nach Deutschland zu schmuggeln – um einfach mal rauszukommen, wie sie sagte; oder den hoch verschuldeten 74-jährigen Dortmunder, der eine Gummibärchen-Firma erpresste.

Demografischer Wandel auch bei Straftätern sichtbar

2015 waren nach Angaben des Statistischen Bundesamts 2049 über 60-Jährige inhaftiert – 16 Prozent mehr als zehn Jahre zuvor. Der demografische Wandel macht auch vor Straftätern nicht halt: Die Gewerkschaft der Polizei geht davon aus, dass um 2030 herum die Zahl der Gesetzesbrecher über 60 erstmals die der straffällig gewordenen Heranwachsenden übertreffen wird.

Die meisten Bundesländer betreiben schon heute altersgerechte Gefängnisabteilungen mit rutschfesten Matten in den Duschen und Notrufsystemen am Bett. In Singen, dem bislang einzigen Gefängnis, in dem nur Alte inhaftiert sind, verbüßen aktuell 44 Männer ihre Strafe. Der Jüngste ist 62, der Älteste 85. „Der Strafvollzug ist ein Spiegel der Gesellschaft“, sagt Dienstleiter Thomas Maus. „Es werden in den nächsten Jahren weitere Seniorengefängnisse entstehen.“

Keine Hierarchiekämpfe unter den Insassen

Der 55-Jährige arbeitet seit mehr als drei Jahrzehnten im Strafvollzug, er berichtet von einer besonderen Atmosphäre, die in Singen herrsche. Es fängt damit an, dass sich die Männer außerhalb der Schließzeiten frei im Gebäude bewegen können, erst um 22 Uhr werden sie in ihren Zellen eingeschlossen. Die Grünanlage im Hof haben sie selbst angelegt, es gibt sogar einen Kräutergarten. Einmal pro Woche kommt ein Arzt, dazu werden Altengymnastik und gemeinsame Backabende angeboten.

Drogenprobleme gebe es nicht, ebenso wenig wie Hierarchiekämpfe unter den Insassen, sagt Maus. „In einer herkömmlichen Haftanstalt sind die alten Häftlinge immer die Verlierer“, denn sie sind den Jüngeren körperlich unterlegen. Während der Altersschnitt in anderen Gefängnissen zwischen 25 und 40 Jahren liegt, sind die Singener Gefangenen im Mittel 70.

Ältere Insassen haben weniger Freiheitsdrang

Die relativ komfortablen Haftbedingungen führen dazu, dass der Freiheitsdrang der Insassen überschaubar ist: „Wir hatten noch nie einen Ausbruch“, sagt Maus. Die mitten in einem Wohngebiet gelegene JVA – ein mehr als 100 Jahre altes Gebäude mit vergitterten Fenstern – ist zwar von einer fünf Meter hohen Mauer umgeben. Auf den anderswo üblichen Stacheldraht auf der Mauer kann Singen aber verzichten.

Die große Schwierigkeit besteht für die Justiz darin, den Tätern eine Chance auf Resozialisierung zu bieten. Eine Rückkehr ins Arbeitsleben ist in deren Alter keine Option mehr. „Unser Ziel ist es, die Selbstständigkeit der Gefangenen zu erhalten, damit sie eine Perspektive für die Zeit nach der Haft haben“, sagt Thomas Maus. Wer keine Familie mehr hat, zieht nach der Entlassung in eine betreute Wohneinrichtung oder ins Altersheim.

Gebrechliche Senioren kommen nicht in Haft

Die Vollzugsanstalt ist aber immer noch ein Gefängnis und kein Pflegeheim. Wer nach Singen kommt, ist noch einigermaßen rüstig. Aufzüge zum Beispiel gibt es nicht. Allzu Gebrechliche bekommen entweder einen Hafterlass oder werden in ein Gefängniskrankenhaus verlegt. „Ein wichtiges Prinzip des Strafvollzugs besteht darin, dass jeder Häftling die Chance haben muss, wieder entlassen zu werden“, sagt Maus.

Experten diskutieren darüber, wie sinnvoll es überhaupt ist, betagte Menschen einzusperren. Anders als bei Jugendlichen hätten die Gerichte keine Möglichkeit, alternative Strafen zu verhängen, stellt der Kölner Strafrechtsprofessor Michael Kubiciel fest. Eine gemeinnützige Arbeit als Erziehungsmaßnahme komme nicht infrage: „Ältere Menschen kann man nicht erziehen.“

Härteste Strafe ist verschwendete Lebenszeit

Der Hannoveraner Kriminologe Bernd-Dieter Meier findet, spezielle Seniorengefängnisse und -abteilungen seien für Straftäter nicht unbedingt die beste Lösung. Wenn Gefangene in großer Entfernung vom Heimatort untergebracht würden, sei es schwieriger, Kontakt zu den Angehörigen zu halten. JVA-Dienstleiter Maus stellt klar: „Bei allen Dingen, die wir hier anders machen als anderswo: Wir stellen nie das Leid der Opfer hinter das Wohl der Täter.“

Die härteste Strafe für Senioren-Gefangene ist die verschwendete Lebenszeit. Viele freuen sich regelrecht über ihren Job in der Gefängnisküche, obwohl sie in ihrem Alter nicht dazu verpflichtet sind. „Man darf nie die Zeit haben, um mit dem Grübeln anzufangen“, sagt ein Häftling, „sonst kommen die Gedanken über das Gefangensein.“