Tokio. Japaner gelten als zurückhaltend. Tränentherapeuten bringen ihnen neuerdings in Kursen bei, wie sie ihren Gefühlen freien Lauf lassen.

Japaner tun sich traditionell schwer damit, Gefühle zu zeigen. In der Öffentlichkeit ist oft nur ihre kühle Fassade zu sehen. Eltern erziehen ihre Kinder dazu, sich einzufügen und sich möglichst zu kontrollieren. Contenance wahren, heißt das Maß aller Dinge. Selbst bei Katastrophen wie dem Erdbeben von Fukushima.

Doch das ändert sich gerade, wie eine Sonderaktion im Kaufhaus Marui in Tokio gezeigt hat. „Zweimal laut aufheulen 2590 Yen!“, hieß es dort. Im Angebot: Tränen-Workshops. Fumiko Watanabe griff zu. „Der Landesmeister im Männerflennen war bereits ausgebucht, aber ich habe noch ein Seminar bei Keita Saiki bekommen“, erzählte die Büroangestellte. Mit der TV-Berühmtheit wollte sie ihr Heulen perfektionieren. „Ich freue mich schon total.“

Firmen engagieren professionelle Heul-Berater

Japan entdeckt die Macht der Tränen. Erst haben nur Firmen professionelle Heul-Berater engagiert, um beim gemeinsamen Weinen den Teamgeist zu fördern. Jetzt wenden sich die ersten Angebote an Privatleute. „Takkyubin“ heißt die neue Dienstleistung. Das Wort heißt eigentlich „Lieferdienst“, doch das mittlere Schriftzeichen ist gegen das für „Weinen“ ausgetauscht: Flennen frei Haus.

Die Weinprofis sind durchweg junge Männer. Die Berufsgruppe heißt in Japan „Ikemeso-Danshi“ – auch das eine Wortneuschöpfung, diesmal aus „attraktiver junger Mann“ und „heulen“. Die Heul-Boys sind meist gerade einmal Anfang 20. Einige arbeiten Vollzeit in dem Geschäft, andere haben noch einen Hauptberuf. Im Kaufhaus Marui standen unter anderem ein Zahnarzt, ein Musiker und ein selbst erklärter Kulturschaffender bei der einwöchigen Sonderaktion zur Auswahl.

Das Geschäft der Tränen­therapeuten boomt

Der traditionelle japanische Gefühlsstau sei nicht gesund, sagt Hiroki Terai vom Anbieter „Ikemenso Takkyubin“. Terai nennt sich selbst einen „Tränenaktivitäten-Producer“. „Gemeinsames Weinen baut Stress ab und fördert den Zusammenhalt“, ist er sich sicher. Die wichtigsten Kunden für seine Heul-Workshops seien weiterhin Firmen mit hohem Frauenanteil, beispielsweise in der Werbebranche.

Doch inzwischen buchen auch Privatleute die Dienstleister. „Da winkt noch ein riesiger Markt.“ Im September vergangenen Jahres hat in Tokio bereits der erste „Grand Prix der flennenden Männer“ stattgefunden. Nach einer virtuellen Vorrunde in der Handy-App DMM.yell blieben zwölf junge Männer übrig, die auf der Bühne einer Halle von Sony Music ihr Bestes gaben. Profi Terai war einer der Juroren. „Es kommt auf ein ästhetisches Heulgesicht an“, erklärten die Kampfrichter. Wichtig sei auch eine authentische Anmutung des Weinens. Es müsse wirklich von innen herausbrechen und dürfe nicht nur aufgesetzt wirken.

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    Vom Synchronschwimmen zur Tränentherapie

    Gewonnen hat Ryozan Sawamura, 23, von Beruf Fotomodel. Er war dann auch einer der Stars bei der Veranstaltung im Kaufhaus Marui. Kundin Watanabe war zwar enttäuscht, ihren Kurs nicht beim Meisterheuler Sawamura belegt zu haben, doch sie erwartet auch von ihrem Ersatzmann Saiki viel. „Schon sein Gesicht berührt mein Herz, ich werde gleich vom ersten Moment an wild losweinen“, glaubt sie. Sie hoffe, dass er ihr mit einem Papiertaschentuch sanft die Wange abwischt, wie auf einem Foto, das sie von ihm gesehen hat.

    Saiki ist ein Showprofi, der sich erst kürzlich auf die Tränenaktivitäten verlegt hat. Er hat an der renommierten Kyoto-Universität Naturwissenschaften studiert, später im Synchronschwimmen brilliert und nennt sich heute „Tränentherapeut“. „Ich will künftig einen größeren Teil meiner kreativen Energie auf professionelle Tränenaktivitäten verwenden“, kündigt Saiki auf seiner Homepage an.

    „Reinigende Wirkung“ des Weinens

    In seinem Blog schreibt er von der „reinigenden Wirkung“ des Weinens und seiner Bedeutung für die Seelenhygiene. Die moderne japanische Gesellschaft müsse Hemmungen abbauen. Auch die Musikbranche hat Verwendung für Saiki. In dem Videoclip einer Popband ist er in einer dramatischen Szene als in Tränen aufgelöster junger Mann zu sehen.

    Sein Kollege Terais und dessen Truppe von Tränentherapeuten tingeln nun in Workshops durchs ganze Land, um ihre frohe Botschaft zu verbreiten. „Männer weinen nicht? Von wegen!“, so ähnlich heißen die Vorträge. Die Veranstaltungen sind rappelvoll. „Die Leute haben sich lange nach so etwas gesehnt“, glaubt Unternehmer Terai. „Sie wollen endlich lernen, Schwäche zu zeigen.“