Berlin. Eine 16-jährige Teenagerin hat mit einem Fake-Account und Fotos eines toten Mädchens Wut im Netz ausgelöst. Eine Suche nach Gründen.

Warum stiehlt sich jemand Fotos eines toten Mädchens, gibt sich damit als todkrank aus und versucht, Tausende reinzulegen? Lena hat uns erzählt, „wer ich wirklich bin” und wie es lief mit ihrer erfundenen Geschichte und der Empörung von Webvideostar Dagi Bee und Tausenden Fans. Es ist eine seltsam reflektierte Geschichte von Problemen von Teenagern und der Suche und Sucht nach Anerkennung.

Es gibt keine Garantie, dass das stimmt, was Lena erzählt. Wir konnten nicht überprüfen, dass sie 16 Jahre alt ist, aus einem bürgerlichen Elternhaus kommt, in einem Dorf lebt und in der zehnten Klasse einer Realschule zu den besten Schülern gehört. Sie hat schon bewiesen, dass sie skrupellos lügen kann. Aber da hatte sie einen Grund, auch wenn der für die meisten Menschen schwer nachvollziehbar ist.

Mädchen auf den Fotos ist seit 2013 tot

Sie wollte „ein Erfolgserlebnis haben”. Im Ergebnis hat sie Hunderte erboster Nachrichten und Drohungen bekommen. Deshalb will sie Lena genannt werden, auch wenn das nicht ihr richtiger Name ist. Er klingt ähnlich wie Nala, das Mädchen, das sie vorgab zu sein.

Montag, 26. Dezember, kurz vor 20 Uhr. Auf Instagram wird nach langer Pause ein Account mit 2000 Followern wieder aktiv. Die alten Angaben verschwinden. Das Konto heißt nun @Nalahere. Über sie ist zu lesen, dass sie „Cancerfighter” ist, gegen den Krebs kämpft. In dem Account finden sich Bilder eines Mädchens ohne Haare. Es sind Fotos von Robyn Higgins, gestorben am 29. September 2013 nach viereinhalb Jahren öffentlichen Kampfes gegen den Krebs. Halb England hatte Anteil genommen, der Account @robyngenvievex des Mädchens hatte 50.000 Follower. Angehörige posten dort auch lange nach ihrem Tod noch Bilder zur Erinnerung.

Empfohlener externer Inhalt
An dieser Stelle befindet sich ein externer Inhalt von Instagram, der von unserer Redaktion empfohlen wird. Er ergänzt den Artikel und kann mit einem Klick angezeigt und wieder ausgeblendet werden.
Externer Inhalt
Ich bin damit einverstanden, dass mir dieser externe Inhalt angezeigt wird. Es können dabei personenbezogene Daten an den Anbieter des Inhalts und Drittdienste übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung

„Ich hatte nach solchen Bildern wie ihren gesucht”, räumt Lena ein. Fotos, die zur bewegenden, aber erlogenen Geschichte von „Nala” passten. Dafür hatte sie auch eine Vorlage: In einem Forum hat bereits 2007 eine 20-Jährige schmerzhaft offen über ihre Gefühle und ihre Verzweiflung geschrieben, weil sie nur noch wenige Wochen zu leben habe.

„Auf der Recherche nach tödlichen Krankheiten war ich auf den Beitrag gestoßen.” Ihre Schilderungen klingen nüchtern wie die Vorbereitungen für ein Referat in der Schule, aber sie hatte es mit großen Emotionen auf großes Publikum abgesehen.

Alles für ein wenig Aufmerksamkeit

Am zweiten Weihnachtsfeiertag war sie auf die Idee gekommen, einen Instagram-Account zu erstellen mit der Identität eines Jugendlichen mit einer tragischen Geschichte. „Einzig und allein für die Follower, für die Aufmerksamkeit, für den Erfolg.”

Es gibt viele junge Leute, für die sich Erfolg bemisst an der Zahl der Follower, der Likes, der Herzchen. Neurowissenschaftler haben bei Jugendlichen nachgewiesen, dass positive Reaktionen in sozialen Medien die gleichen Hirnregionen stimulieren wie der Genuss von Schokolade oder ein Geldgewinn.

Von Eltern nicht verstanden gefühlt

Ein bisschen stehe sie auch in Konkurrenz mit ihrer älteren Schwester, schreibt Lena, die auch schon Accounts gefakt habe.

Sie ist die mittlere von drei Geschwistern. Und da, erklärt sie, fangen ihre Probleme an. Rausreden wolle sie sich damit nicht, „vielleicht macht es aber alles verständlicher”. Sie schreibt davon, sich als Sandwichkind zurückgesetzt zu fühlen, von ihrer Befürchtung, von ADS betroffen zu sein, aber mit ihren Eltern nicht darüber reden zu können.

Körperliche Gewalt erfahren

„Mein kleiner Bruder wird extrem bevorzugt und bekommt alles, was er will. Alle stehen immer auf seiner Seite, und er nutzt das total aus. Mich behandelt er wie eine kleine Schwester.” Das mache sie ziemlich fertig. Und dann bekomme sie ständig zu hören, wie enttäuscht ihre Eltern von ihr seien, dass sie nie etwas erreichen werde.

Der Vater tritt einmal ihre Tür ein, die Mutter wendet körperliche Gewalt an. „Meine schulischen Leistungen wurden immer schlechter, ich musste auf dem Gymnasium eine Klasse wiederholen.” Das sei die Zeit gewesen, als schon einmal ein Fakeprofil mit einer Lügengeschichte erstellt, „aber das war auch schnell aufgeflogen und hatte nicht diese Kreise gezogen.”

Schulwechsel machte Vieles besser

Dass sie nun quasi Wiederholungstäterin ist, kratzt an der Glaubwürdigkeit ihrer Entschuldigung. „Ich möchte mich noch einmal aufrichtig für das entschuldigen, was ich gemacht habe”, schreibt sie. „Es tut mir leid.” Schulische Probleme kann sie jetzt nicht mehr geltend machen: Nach dem Wechsel auf die Realschule schreibe sie nur Einsen und Zweien, neue Freunde hat sie gefunden und ist in einer Beziehung. Und trotzdem war ihr Fake diesmal noch ausgefeilter und niederträchtiger.

Dienstag, 27. Januar, gegen 1 Uhr: Mehrere Fan-Accounts für Youtuberin Dagi Bee erhalten ein Sharepic zugeschickt, ein Bild mit einem Text darauf, das Fans der Youtuberin verbreiten sollen. So soll sich der letzte Wunsch der „todkranken” Instagramerin @Nalahere erfüllen: ihr Idol Dagi Bee treffen.

„Dagi Bee kam mir in den Sinn, weil ich denke, dass ihre Fans am ehesten so etwas unterstützen.” Auf Lenas @Nalahere-Account sind zu dem Zeitpunkt zwar bereits einige Nutzer aufmerksam geworden, „aber es hatte mir nicht gereicht. Ich wollte möglichst schnell viele Abonnenten und nicht lange warten müssen.”

Mädchen fürchtet an ADHS erkrankt zu sein

Diese Ungeduld sei vielleicht Folge von ADHS. Die hat sie sich selbst diagnostiziert, „mit meinen Eltern kann ich darüber nicht reden, die halten nichts von der Krankheit.” Im Internet hat sie mehrere Tests gemacht, alle mit dem Ergebnis, dass bei ihr Risiko auf ADS oder ADHS bestehe.

Auf Follower muss sie aber nicht mehr warten, nachdem sie den Aufruf mit dem Schicksal von Nala gezielt gestreut hat. Jetzt verbreitet sich die Fake-Nachricht vom letzten Wunsch des todgeweihten Fans viral, weil Fans zu bereitwilligen Helfern werden. Die Followerzahl von @Nalahere wächst rapide. „Ich hatte vor, die Seite mit der Fake-Geschichte zu führen, bis genug Follower beisammen sind. Dann wollte ich die Seite umbenennen und alle Spuren von Nala löschen, um die Seite zeigen zu können.”

Fake-Seiten erfolgreiches Geschäftsmodell

Die Masche war vor Jahren auf Facebook bereits ein erfolgreiches Geschäftsmodell: Seiten gründen auf dem Höhepunkt von Empörungswellen, um mit der Wut oder dem Mitgefühl Fans zu sammeln. Dann werden alle Einträge zum Thema gelöscht, mit dem Anstrich einer Witzeseite werden auch Werbe-Links gepostet.

Dienstag, 27. Dezember, 11.30 Uhr. Eine Nutzerin lässt @Nalahere auffliegen. Sie hat die Bilder im echten Account der verstorbenen Robyn Higgens gefunden. Screenshots beider Profile im Vergleich machen nun die Runde.

Hunderte von Hassnachrichten fanden sich im Eingang, nachdem der Schwindel aufgeflogen war.
Hunderte von Hassnachrichten fanden sich im Eingang, nachdem der Schwindel aufgeflogen war. © Screenshot/Montage FMG  | Screenshot/Montage FMG 

Dienstag, 27. Dezember, kurz nach 13 Uhr: Von dem Nala-Account kommt eine Antwort auf eine Nachricht einer Instagramerin.„Ich bin famegeil, muss ich leider zugeben.”

Hunderte Hassnachrichten

Nachdem Lena zwei Stunden nicht online war, hat sie beim Einloggen in den Account von Nala eine Wutwelle erwartet. „Ich hatte Hunderte Hassnachrichten. Es war vorbei.”

Mittwoch, 28. Dezember, etwa 14 Uhr: Der Account bekommt nach nicht einmal 48 Stunden einen neuen Namen, alle Bilder sind verschwunden. Er heißt jetzt @Jannickvble, angeblich ist gehört er zu einem 17-Jährigen. Auch das ist ein Fake, das Bild stammt nun von einem spanischen Account.

Sehnsucht nach Bewunderung

Die Umbenennung sei für sie eine vorübergehende Notlösung gewesen: „Ich habe so getan, als hätte ich die Seite an einen Jannick verschenkt, damit erstmal Ruhe ist und ich nicht mehr so viele Nachrichten bekomme.” Sie hat schon mal eine Seite verschenkt mit 40.000 Followern, „in anderthalb Jahren vollkommen fair erarbeitet”. Viel Mühe hatte sie das gekostet. Doch: „Ich merkte, wie ich auch im echten Leben Bewunderung für diese Instagram-Seite bekam.” Das süße Gefühl hatte sie wieder haben wollen.

Dienstag, 27. Dezember, 14.16 Uhr. Dagi Bee macht ihrem Ärger auf Twitter Luft. „Findet Ihr das witzig, ein todkrankes Mädchen zu faken, nur um mit mir Kontakt zu haben?”, schreibt sie an 1,6 Millionen Follower. „Schämt euch.”

Empfohlener externer Inhalt
An dieser Stelle befindet sich ein externer Inhalt von X, der von unserer Redaktion empfohlen wird. Er ergänzt den Artikel und kann mit einem Klick angezeigt und wieder ausgeblendet werden.
Externer Inhalt
Ich bin damit einverstanden, dass mir dieser externe Inhalt angezeigt wird. Es können dabei personenbezogene Daten an den Anbieter des Inhalts und Drittdienste übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung

Es sei gar nicht ihr Ziel gewesen, dass Dagi Bee die Seite bemerke, so Lena. „Ich wollte einfach, dass möglichst viele auf meine Seite aufmerksam werden.”

Mittwoch, 28. Dezember, 12.20 Uhr: Lena antwortet auf die Anfrage unserer Redaktion.

„Ich habe gerade Ferien und Langeweile, deswegen dachte ich, ich kann ja mal was dazu schreiben. Was Sie mit den Informationen machen, ist mir egal.” Es folgen Dutzende Nachrichten hin und her, sie erläutert, stellt klar und beantwortet jede Frage. Vielleicht ist es Lena doch nicht so egal. Nalas Account heißt jetzt @Notthetruth_. „Vielleicht lösche ich ihn. Ich möchte die ganze Fake-Geschichte komplett vergessen.”

Freitag, 30. Dezember, 9 Uhr. Es taucht wieder ein Account mit Fotos der toten Robyn auf. Er heißt diesmal @larralife, und diesmal will das vermeintlich todkranke Mädchen angeblich die Youtuberin BibisBeautypalace treffen.

„Das bin ich nicht, wirklich nicht! Das müssen sie mir glauben.”

Unsere Redaktion hat Lena geraten, sich professionelle Hilfe zu suchen, wenn ihre Situation für sie so belastend ist. Sie überlegt, zumindest die Telefonseelsorge zu kontaktieren.